Schwarzes Echo
ERSTER TEIL
Sonntag, 20. Mai
Der Junge konnte im Dunkeln nichts sehen, aber das war auch nicht nötig. Erfahrung und langjährige Praxis sagten ihm, daß es gut kam. Schön gleichmäßig. Mit weichem Schwung. Er bewegte den ganzen Arm, sanft das Handgelenk. Laß die Kugel rollen. Keine Nasen. Wunderbar.
Er hörte das Zischen der ausströmenden Luft und spürte das Rollen der Kugel. Es waren beruhigende Empfindungen. Der Geruch erinnerte ihn an die Tüte in seiner Tasche, und er überlegte, ob er sich anknallen sollte. Vielleicht hinterher, beschloß er. Er wollte jetzt nicht aufhören, nicht bevor er den Schriftzug vollendet hatte.
Dann hörte er auf – als außer dem Zischen der Spraydose ein Motor zu hören war. Er drehte sich um, sah aber nirgendwo Licht, nur das silbrigweiße Spiegelbild des Mondes auf dem Wasserbecken und die matte Birne über der Tür zur Pumpstation, die auf halbem Weg zum Damm lag.
Aber er ließ sich nicht täuschen. Es war ein Motor. Hörte sich an wie ein Laster. Und dann meinte der Junge, das Knirschen von Reifen auf dem Kiesweg zu hören, der um das Wasserbecken führte. Es kam näher. Fast drei Uhr morgens, und jemand kam. Weshalb? Der Junge stand auf und warf die Sprühdose über den Zaun zum Wasser hin. Er hörte, wie sie im Unterholz aufschlug, kurz vor der Stelle, die er angepeilt hatte. Er zog die Tüte aus seiner Tasche und beschloß, einen kleinen Zug zu nehmen, um sich etwas Mut zu machen. Er vergrub seine Nase in der Tüte und atmete die Farbdämpfe tief ein. Auf den Absätzen torkelte er rückwärts, und seine Augenlider zuckten unkontrolliert. Die Tüte warf er über den Zaun.
Der Junge nahm sein Motorrad und schob es über die Straße, rüber ins hohe Gras zwischen die Kiefern am Fuße des Hügels. Das ist eine gute Deckung, dachte er, und sehen konnte er von hier auch, wer kam. Der Motor wurde immer lauter. In wenigen Augenblicken mußte jemand da sein, aber Scheinwerfer konnte er keine sehen. Das verblüffte ihn. Aber es war zu spät, um zu fliehen. Er legte das Motorrad in das hohe, braune Gras und hielt das freilaufende Vorderrad mit der Hand fest. Dann drückte er sich an den Boden und wartete, wer oder was da kommen mochte.
Harry Bosch konnte den Hubschrauber da oben hören. Irgendwo über der Finsternis kreiste er im Licht. Wieso landete er nicht? Wieso brachte er keine Hilfe? Harry kroch durch einen verräucherten, dunklen Tunnel, und die Batterien seiner Taschenlampe ließen nach. Mit jedem Meter, den er zurücklegte, wurde das Licht schwächer. Er brauchte Hilfe. Er mußte sich beeilen. Er mußte das Ende des Tunnels erreichen, bevor er kein Licht mehr hatte und allein in der Finsternis hockte. Er hörte, wie der Helikopter ein letztes Mal über ihn hinwegflog. Warum landete er nicht? Wo blieb die Hilfe, die er brauchte? Als das Dröhnen der Rotoren verklang, spürte er, wie seine Panik wuchs, und er bewegte sich schneller, kroch auf zerschrammten und blutigen Knien, hielt mit einer Hand das trübe Licht, stützte sich mit der anderen ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er drehte sich nicht um, denn er wußte, daß hinter ihm im schwarzen Dunst der Feind lauerte. Unsichtbar, aber da. Und er kam näher.
Als das Telefon in der Küche klingelte, war Bosch augenblicklich wach. Er zählte das Läuten, fragte sich, ob er die ersten ein, zwei Male überhört hatte, fragte sich, ob der Anrufbeantworter angestellt war.
War er nicht. Der Anruf wurde nicht entgegengenommen, und erst nach dem achten Mal hörte das Läuten wie üblich auf. Geistesabwesend überlegte er, woher diese Vorschrift stammen mochte. Wieso nicht sechsmal? Wieso nicht zehn? Er rieb seine Augen und sah sich um. Wieder lag er auf seinem Wohnzimmersessel, dem weichen Lehnstuhl, dem He rzstück seiner dürftigen Möblierung. Er betrachtete ihn als seinen Bereitschaftssessel. Was allerdings eine nicht ganz zutreffende Bezeichnung war, denn in diesem Sessel schlief er oft, sogar wenn er dienstfrei hatte.
Morgenlicht drang durch einen Spalt in den Vorhängen und lag grell auf dem abgebeizten Kiefernholzboden. Er sah Staubteilchen vor der gläsernen Schiebetür träge im Licht taumeln. Die Lampe auf dem Tisch neben ihm war an, und im Fernseher lief ohne Ton eine Sonntagmorgen-Jesus-Show. Auf dem Tisch neben dem Stuhl die Gefährten seiner Schlaflosigkeit: Kartenspiel, Illustrierte und Krimis – letztere kaum durchgeblättert, dann weggelegt. Er sah eine z erknüllte Zigarettenschachtel und
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