Heile Welt
spät>, das kann auch ganz etwas anderes bedeuten, etwas, das mit dem Wecker nichts zu tun hat.»
Zu spät – ein dummes Wort
Noch war es nicht zu spät für einen Neuanfang, hier in Klein-Wense würde ihm der neue Start glücken, das war zu erwarten. Nun auch schön vorsichtig sein, damit man sich nicht wieder alles verpatzt. Nicht zu feurig sein, immer mit der Ruhe. Die Dinge an sich herankommen lassen.
5
D as Schulhaus war ein«preußischer»Bau, von Efeu berankt, wahrscheinlich nach 1871 erbaut, von französischen Kontributionsmilliarden, wie so manches Schulgebäude im deutschen Vaterland, so mancher Bahnhof und so manches Postgebäude. Ein Hahn stand auf dem Zaunpfosten und krähte die Tonika aufwärts, einmal laut und einmal leiser. Dann plusterte er sich. Über der Schultür stand zu lesen:
Lernet die Weisheit!
Matthias stellte das Fahrrad an den Zaun. Die Kinder, die ihm bis hierher gefolgt waren, verschwanden: Sie würden die Kunde ins Dorf tragen:«De nije Liehrer is dor.»Und die Eltern würden sagen:«Datt weet wi all lang.»
Die Tür des Schulhauses war nicht verschlossen, eine altmodische Tür war das, mit zwei kleinen Fenstern hinter schmiedeeisernem Geranke, gut für den Postboten, der die Post dahinterklemmen konnte. Auch die Tür stammte noch aus der Kaiserzeit. Sie war mit geflügelten Engelsköpfen verziert, vom alljährlichen Ölfarbanstrich zugekleistert.
Matthias öffnete die Tür, eine Schneppklingel schlug an – das Haus war leer. Feuchter, muffiger Friedhofsgeruch zog ihm entgegen. Aber am Ende des Flurs stand eine Zimmertür offen, und von dort kam helles Sonnenlicht.
Küche, Kammer und eine sonnige Wohnstube, breit gedielt, mit Blumenfenster und Blick auf den Garten – ein ausgesessenes Sofa an der Wand, fürs Mittagsschläfchen, das hatte der Kollege stehenlassen, vielleicht von seinem Vorgänger übernommen.
In jedem Zimmer ein großer Kachelofen mit griechischem Fries oben rum – in den Wänden noch die Nägel, an denen Bilder gehangen hatten, und an der Decke hellbraune Wasserflecken: Es regnete also durch im Hause des Schulmeisters.
An die Wohnstube war ein kleines Kabinett angebaut, mit Glasveranda, auf dem Fensterbrett vertrocknete Geranien: Mäuse stoben nach allen Seiten, als Matthias den Anbau betrat. Hier hatte Kollege Schmauch vermutlich seine Unterrichtsvorbereitungen gemacht -«Warum manche Körper schwimmen, andere hingegen nicht«. In der Ecke lag ein Stoß aussortierter Bücher:«Der Bücherschatz des Lehrers, Bd. XIV-XIX»- auch die hatte der Vorgänger dagelassen, die brauchte der ja jetzt nicht mehr.
Kaffee trinken und Hefte durchsehen, Heimatkunde. Abends Bier und Schnaps. Nachts hatten ihn Bauernburschen im Straßengraben aufgelesen und nach Hause gebracht, ehemalige Schüler. Nach Moskau gelaufen und zurück und dann betrunken jeden Tag.
Matthias setzte sich auf das Sofa: auf der gepolsterten Lehne der Fettfleck von Schmauchs Kopf.
Lebensstart Nummer 1, 2, 3. Es war schon lange her, daß Matthias an einem Fenster gesessen hatte und in einen Garten geguckt. April: Der unwirsche Vater war, eine Volkssturmbinde um den Arm, durch die Gartenpforte für immer davongegangen, den Kopf hatte er geschüttelt… Das war ebenfalls an einem Apriltag gewesen, und die Forsythien waren schon verblüht.
In der Küche hatte das Ehepaar Schmauch ein paar Utensilien zurückgelassen, eine Pfanne und ein Kochtopf standen auf dem Feuerherd, und auf einem mit Wachstuch belegten Tisch waren Geschenke aufgebaut, wie zum Geburtstag: ein halbes Brot, etwas Wurst, ein Napf voll Schmalz und ein halber Topfkuchen. Dazu ein Weckglas mit eingelegten Gurken. Auch Blumen fehlten nicht: In einer Milchflasche standen drei Narzissen: Glaube, Liebe, Hoffnung, oder«Jungvolkjungen sind hart, tapfer und treu…»Auf dem Herd etwas Brennholz und ein paar Briketts.
«Wir wünschen Ihnen alles Gute! »stand auf einem Zettel, und daneben lagen die Hausschlüssel und ein Brief, den man ja auch später noch lesen konnte.
Eine Kammer, blau tapeziert, lag neben der Küche. Hier hatte Kollege Schmauch seine Räusche ausgeschlafen; daneben das Klo mit«Waschgelegenheit»und einer rostgefleckten Badewanne.
«Der Durchlauferhitzer ist schadhaft», war auf einem Zettel zu lesen, der mit Bindfaden um den Wasserhahn gebunden war.
Matthias ging in die Küche, räumte die Sachen vom Tisch und riß das klebrige Wachstuch herunter, eine feste Eichenplatte kam aufatmend zum Vorschein, und die Beine
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