Heimspiel
An ihren Schreibtisch setzt sie sich nicht. Sie arbeitet lieber am Konferenztisch, auch wenn sie allein ist. Es ist ein Reflex wie der einer Hausfrau, die lieber am Küchentisch sitzt als im Esszimmer. Ihr Schreibtisch ist riesengroß, und es könnte sein, dass der testosterone Geist ihres Vorgängers noch darauf liegt. Außerdem steht er dem Fenster abgewandt, man kann den Reichstag gar nicht richtig sehen vom Schreibtisch aus. Und sie ist eine Frau mit Weitblick, zumindest spürt sie den inneren Drang, genau das zu sein. Also sitzt sie am Konferenztisch. Wenn sie arbeiten will. Doch auch da sucht sie sich nicht die Mitte aus, sondern das Eck im Eck des Kanzlerbüros. Da stapeln sich die Akten, und die schenken ihr ein Stück Geborgenheit in diesem Raum kühler Distanzenergie.
Ihr Vorzimmer hat wie jedes Jahr ein Adventsgesteck auf den Konferenztisch gestellt. Das wirkt in diesem Büro wie ein Meteorit – so fremd. Rheinländer aus ihrer Fraktion waren es, die ihr den Gruß Gemütlichkeit mit Tannenzweigen übersandt haben. Aber sie zündet die Kerzen nicht an. Hat sie bislang in keinem Jahr gemacht. Sie ist keine Rheinländerin. Sie ist so wenig Rheinländerin wie Italienerin.
Und doch gönnt sie sich jeden Tag einen kleinen Moment der Leichtigkeit. Wenn sie Akten studiert oder sich auf den nächsten Termin vorbereitet, dann zieht sie die Schuhe aus, halb zumindest. Sie reibt ihre Füße aneinander wie ein kleines Mädchen. Unbewusst tut sie das, obwohl sie ganz wenig unbewusst tut. Im politischen Berlin ist sie eigentlich das Bewusste schlechthin.
An diesem Mittwoch hat sie ihre Schuhe wieder einmal ausgezogen – unterm Tisch. Die erste Besprechungsrunde tagt. Bereits seit 7:45 Uhr beratschlagen sie zu siebt im Sitzungssaal LE 7.101. Normalerweise beginnt die »Morgenlage« – wie es militärisch heißt – immer erst um 8:30 Uhr. Genau genommen sprechen nur die Älteren noch von Morgenlage, die Jüngeren gehen zum »Kick-off«. Die Kanzlerin vermeidet beide Vokabeln und gießt sich eine Tasse Tee ein, die anderen trinken Kaffee, der in silbern-buckligen Kannen auf dem Tisch steht. Doch mittwochs ist alles anders. Denn da beginnt um 9:30 Uhr die Kabinettssitzung. Einige ältere Kollegen wollen dringend vorher noch »heikle Lagen« mit ihr besprechen.
Der Fraktionschef liebt Lagen, aber er ist mittwochs immer so nervös. Sagt zumindest ihre Büroleiterin. Und sie sagt es spöttisch, jeden Mittwoch, denn sie kann den Fraktionschef nicht leiden.
Noch aber ist der gar nicht dabei. Noch hat die Kanzlerin ihre Schuhe ausgezogen, und ihr gut aussehender, jungenhafter Regierungssprecher referiert frohgemut das »Mediensetting«. Er sitzt am Kopf des Tisches, der eigentlich ihr zustehen würde, sie ist ja schließlich die Kanzlerin. Aber sie legt keinen Wert darauf, denn die Längsseite des Tisches gibt ihr mehr Schutz. Sie ist enorm schutzbedürftig, aber das weiß keiner. Und weil das keiner weiß, halten sie ihre Behutsamkeit für Cleverness.
Als der Regierungssprecher erzählt, dass ihr langes Kleid vom Premierenauftritt in Bayreuth immer noch die Klatschblätter beschäftige, verzieht der Kanzleramtschef die Mundwinkel. Während der eine das Leben verkörpert, steht der andere für die Ordnung. Der Kanzleramtschef ist Jurist und setzt sich mit sicherem Instinkt für Machtsymbolik immer links neben die Kanzlerin. Und als Einziger bringt er Stapel von Akten in die Morgenlage mit. Sie sind sein Accessoire der Macht. Er benutzt sie in dieser Sitzung nie, aber alle anderen trauen ihm zu, dass er in den Akten Gewaltiges verborgen hält. Brisante Studien des Bundesnachrichtendienstes zum Beispiel. Die Stasiakte des Oppositionsführers. Die Spesenabrechnung des Regierungssprechers. Zumindest aber den neuen Angriffsplan der Amerikaner in Afghanistan.
Der Regierungssprecher kommt zu den Leitartikeln der großen Tageszeitungen und stellt beruhigt fest, dass an diesem Mittwoch nichts gedruckt worden sei, was wirklich wehtue. Es sei ruhig. Fast zu ruhig, fügt der Kanzleramtschef im Gestus taktischer Schläue an. Man solle vielleicht ein Thema lostreten, das die Medien beschäftige, sonst kämen die auf dumme Gedanken. Oder echte Recherchen, wendet der Regierungssprecher ein, was der Kanzleramtschef als subtile Drohung versteht.
Die Büroleiterin meldet sich zu Wort und fragt nach Reaktionen auf den vorabendlichen Talkshow-Auftritt der Kanzlerin. Sie redet nie lange, und eigentlich fragt sie immer nur. Aber sie gilt
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