Heimspiel
sie pathetischer gucken als ich. Was haben Sie noch auf Lager?«
»Die Franz-Beckenbauer-Stiftung für Straßenfußballkinder aus Arbeitervierteln.«
»Das könnte zwar klappen, aber bei dieser Wahl haben wir doch gar kein Problem mit den Sozis. In der bürgerlichen Mitte werden wir von den Grünen attackiert. Kiezprobleme sind das falsche Thema. Nein, geht auch nicht.«
»Aber mein fünfter Vorschlag, der wird Ihnen gefallen.«
»Und? Wie lautet der?«
»Die Franz-Beckenbauer-Bewegung: Sag Ja zu Deutschland! Schwarz-rot-goldene Anstecker, die an ihn und seinen offensiven Patriotismus erinnern.«
»Das klingt gut. Auf der nationalen Seite können wir die Grünen kriegen.«
»Der Button müsste ein Kultobjekt für die WM werden. Motto: ›Wir gewinnen für Beckenbauer. Deutschland gewinnt mit Beckenbauer.‹ Sie tragen ihn als Erste, am besten gleich zur Präsentationsrede, und Sie legen das Ding nicht mehr ab – bis zur Wahl.«
»Sehr gut. Aber wer zahlt für die Anstecker?«
»Das muss der DFB machen. Die sind dabei, wenn es ihre Idee gewesen ist.«
»Das muss es sowieso sein, wir ehren den Fußball nur. Ich werde sagen: Auch ich hefte mir jetzt den Franz-Anstecker vom DFB an und lasse ihn bis zur WM am Blazer.«
»Und das bitte mit Ihrem Betroffenheitsgesicht«, rutscht es dem Generalsekretär raus. Da merkt er schon, wie sich ihr Gesicht verdüstert. Das war eine zynische Vetrautheit zu viel, worauf sie ihn anblafft:
»Sie würden mich auch den Wembley-Ball noch ins Schloss Bellevue werfen lassen!«
Ein kurzer Blickwechsel mit der Strategin signalisiert weibliches Einvernehmen. Er hingegen findet die Idee großartig, wundert sich aber, woher sie etwas von Wembley weiß. Das macht ihn misstrauisch. Offensichtlich hat er in Sachen Fußball keine Deutungshoheit mehr. Der Sache wird er nachgehen.
Rasch entschwindet die Kanzlerin dem Treffen mit der Fraktion, eilt wieder hinüber ins Kanzleramt, denn heute Abend steht ein Pokalspiel an: Eintracht Frankfurt gegen Kickers Offenbach. Für den Weltfußball eine Nichtigkeit, für Hessen ein heißes Lokalderby, für die Kanzlerin eine Nachhilfestunde – das neu aufgelegte Meisterschaftsendspiel von 1959! Das zumindest hatte Netzer ihr beigebracht. Sie fliegt nach Frankfurt, und schon beim Landeanflug sieht sie das illuminierte Stadion daliegen wie ein gelbliches Nest im Wald vor der Skyline-Kulisse.
Netzer wartet am Flughafen auf sie. Bevor sie in die Limousine steigt, wirft sie ihm noch zu:
»Die Lektion mit Wembley war wunderbar. Kann man bestens ins Politische einarbeiten. Damit habe ich heute meinen Generalsekretär erschreckt.«
»Das freut mich«, erwidert Netzer mit sonorer Stimme.
»Gibt es weitere heilige Kollektiverinnerungen, die ich gebrauchen kann?«
»Das Wunder von Bern 1954 natürlich, wenn Sie verletzten Seelen Stolz schenken wollen. Gerd Müllers Siegtreffer beim Endspiel 1974 gegen Holland. Damit können Sie die wuseligen Wühler und fleißigen Kämpfer, die aus wenig viel machen, rühmen. Und Beckenbauers einsamer Siegerspaziergang nach der gewonnenen WM 1990, wenn Sie mal was für stille Genießer brauchen. Dann noch das Golden Goal von Oliver Bierhoff, mit dem wir 1996 Europameister wurden. Wenn Sie die Engländer mal ärgern wollen, das Tor fiel nämlich im alten Wembley-Stadion. Auf der Niederlagenseite …«
»Niederlagen interessieren mich nicht so,« unterbricht sie ihn, lächelt und blickt aus dem Fenster.
Netzer doziert einfach weiter. »Also, da war 1978 die lächerliche Niederlage von Córdoba gegen Österreich, die jüngsten Niederlagen gegen Spanien und natürlich das Spiel gegen die DDR-Auswahl 1974.«
»An den Sieg kann ich mich erinnern.«
»Sieg? Wir haben gegen die Kommunistenrumpeltruppe doch verloren!«
»Für uns im Osten war es ein Riesensieg. Außerdem wurde ich genau an diesem Tag das erste Mal geküsst.«
Netzer schweigt. Er rechnet nach, wie alt sie wohl gewesen sein musste. Wie zur Selbstablenkung von ungehörigen Gedanken öffnet er plötzlich seinen Aktenkoffer und holt Trikot, Schal, Sonnenbrille und Mütze heraus. Alles in den Farben von Eintracht Frankfurt.
»Wofür ist das?«
»Für Sie, heute gehen wir in eine echte Fankurve. Da müssen Sie anonym rein. Ich nehm Sie mit. Wir sind jetzt beide Eintracht-Ultras.«
Die Kanzlerin schmunzelt, die Personenschützer hat sie zum Entsetzen ihres Sicherheitschefs am Flughafen fortgeschickt und freut sich auf Anonymität. Und auf das Ultra-Sein, denn
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