Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
sich?!«
»Ja, Hendrikje, ich erinnere mich«, seufzt die Palmenberg und fügt nur aus höchster Erschöpfung über den gnadenlosen Unverstand ihrer Patientin gedehnt hinzu: »Und was bedeutet Ihnen das, dass Sugar Brown so ganz offensichtlich keinen Liebeskummer mehr hat?«
»Na ja«, sagt Hendrikje, »am Anfang hab ich mich gefreut, ich dachte, Mensch, das ist aber schön, Sugar Brown hat keinen Liebeskummer mehr, super. Aber dann, dann war ich irgendwie auch enttäuscht, ich dachte: Jetzt gehört er mir nicht mehr so wie früher.«
»… gehört Ihnen??«
»Ja, irgendwie hatte ich immer das Gefühl, Sugar Brown schreibt nur für mich, also, ich weiß natürlich, dass das Quatsch ist, aber ich hatte immer so ein Gefühl, ich dachte, der Sugar Brown und ich, also wir sind ja eigentlich Seelenverwandte. Und wenn er nun aber Zahnschmerzen hat und keinen Liebeskummer mehr, na ja, ich weiß nicht, dann ändert sich das vielleicht.«
»Und, hat es sich bisher geändert?«
»Das weiß ich doch jetzt noch nicht! Das ist doch die Kolumne von vorgestern, und ich kann doch erst heute abend die von gestern lesen!«
»Und was gedenken Sie also zu tun?«
»Ja, weiß ich auch nicht. Abwarten.«
»Genau, Hendrikje. Warten wir’s ab.«
Zurück auf Stube kramt Hendrikje nun doch die von Bruno aus dem Abbruchhaus gerettete Leinwand unter ihrem Bett hervor und hängt Dieters Arm mit dem Segelschiff auf. Es hat ein paar Tage gedauert, bis sie sich das getraut hat, denn sie hatte Angst, Gudrun könnte loskreischen: ›Das is’ meins! Das hat Dieter mir geschenkt!‹, aber hat sie gar nicht, die Gudrun. Es ist nicht leicht, eine mit Acrylfarben bemalte lange, schmale Leinwand mit Tesafilm an der Wand zu fixieren, denn Nägel sind hier nicht erlaubt, aber Gudrun hilft Hendrikje und sie schaffen es. Gudrun findet das Bild
obergeil
, aber Hendrikje sagt, es wär
pillepalle
, kleine Studie, weiter nix.
Und dann gehen sie auch bald zu Bett und löschen das Licht.
Anfang April antwortet Bruno auf Hendrikjes Brief mit einer Postkarte ohne Bild, so eine, wie man sie bei der Post kaufen kann und wo die Briefmarke schon aufgedruckt ist:
Hendrikje,
eigentlich brauche ich die Sachen, die ich Dir gegeben hatte, nicht, und schon gar nicht jetzt, wo es Frühling wird, es waren ja dicke Wintersachen, wenn ich mich recht erinnere. Es ist aber nett von Dir, dass Du daran gedacht hast.
Gruß, B.
Hendrikjes Enttäuschung ist maßlos. Sie möchte schreien, aber ganz laut. Sie möchte sofort in den Aufenthaltsraum rennen, wo Gudrun gerade allen die Haare schneidet, und es ihr erzählen, aber dann wissen es wirklich alle. Das ist eine glatte Abfuhr von Bruno, der wird sie nie wieder besuchen. Sie möchte am liebsten das Zimmer der Palmenberg stürmen und sich an deren schönem Busen ausweinen, aber die ist heute gar nicht im Haus. Das ist ja unverschämt von Bruno, sie so abfahren zu lassen, das ist ja richtig gemein und das ist völlig unangemessen, nur weil sie ihn mal ein bisschen geärgert hat, Mensch, er hätte sich ja nicht ärgern lassen müssen!
O Gott, denkt Hendrikje, jetzt bloß nicht in den Aufenthaltsraum rennen und es allen erzählen, bloß das nicht, denn dann wissen es alle, da muss ich jetzt einmal alleine durch. So eine Unverschämtheit, so eine Gemeinheit, was würde die Palmenberg dazu sagen, gut, dass sie nicht da ist. Aber was würde die dazu sagen, die superschlaue Palmenberg, die sich in den Seelen der Menschen so superperfekt auskennt? Dass Bruno keinen Bock hat, sie zu besuchen, das würde die Palmenberg sagen. Aber die Palmenberg kennt Bruno ja gar nicht. Bruno hat nicht keinen Bock, sie zu besuchen, da ist Hendrikje sich plötzlich ganz sicher. Jede Wette, denkt Hendrikje, der ist nur meinetwegen ins Café gekommen die ganzen Jahre, denn er hat ja selber gesagt, dass er jetzt nicht mehr hingeht. Der hätte ja genug andere Cafés gehabt, wenn ich ihn wirklich so geärgert hätte, und er hätte ja jederzeit zurückärgern können, und ich habe mich ja auch entschuldigt.
Der lässt mich zappeln, denkt Hendrikje plötzlich, ganz klar, denn wieso hat er überhaupt geantwortet, wenn er seine Sachen nicht braucht? Wieso gibt er dann noch Geld aus für eine Postkarte? Der lässt mich zappeln, der guckt, wie lang mein Atem ist, der guckt, wie wichtig es mir ist, nein:
er
, wie wichtig
er
mir ist. Der will wissen, wie viele Briefe ich bereit bin zu schreiben, bis er noch mal seinen Arsch hierher bewegt, der
Weitere Kostenlose Bücher