Henry - Das Buch mit Biss (German Edition)
lieber
genau überlegen, was ich sage. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, würde ich,
wenn ich du wäre, vielleicht besser verschwinden, bevor sie mich auseinander
nehmen.“
„Das
würde dir so gefallen…“
Nero
legte den Kopf schief. „Du hast recht.“
Plötzlich
war er sehr liebenswürdig. „Komm, kleiner Bruder, lass uns gehen. Und trödel
nicht, immerhin sind wir verabredet.“
Kapitel 4
Biologie-Unterricht
Die High School von Spoon
unterscheidet sich nicht groß von den meisten anderen Schulen, außer dass sie
kleiner, düsterer und heruntergekommener ist. Es gibt eine muffige Sporthalle,
einen abgenutzten Platz in dessen Unebenheiten das Wasser steht, eine Blaskapelle
mit Uniformen von vor dreißig Jahren und den obligatorischen Schulseelsorger
mit Alkoholproblem. Das kulturelle Angebot ist ein Witz und die Schule steckt
seit Jahren in den Miesen.
Wer
will, dass aus seinen Kindern etwas Anständiges wird, der schickt sie in den
nächst größere Stadt nach Lauderdaile. Den Sprung raus aus Spoon schaffen allerdings
nur wenige. Und so unbegreiflich es auch ist – die meisten wollen gar nicht weg
von hier. Ihr Leben spielt sich stattdessen in diesem überschaubaren Mikro-Kosmos
ab. Jeder kennt nicht nur jeden, sondern jeder mischt in den Geschäften des
anderen mit herum. Alles Schwager und Cousins fünften Grades. Eine verschworene
kleine Gemeinschaft voll einfacher, und teils auch recht einfältiger Individuen.
Wenn man will, kann man die heutigen Einwohner auf drei, vier Hauptfamilien
zurückführen.
Früher,
noch bevor meine Familie und ich hier hergezogen waren, vor etwas über dreißig
Jahren, waren die Wälder in der Umgebung wohl ein beliebtes Jagd-Gebiet gewesen.
Touristen kamen von weit her, kauften in Harry Lloyds Laden Waffen und
Munition, aßen im Dead Deer Wildsteaks und stolzierten in ihren
Karo-Hemden, Stiefeln und Biebermützen fröhlich ballernd durch die Gegend. (Oder
zumindest stelle ich es mir so vor. Wir haben doch alle unsere Vorurteile.)
Doch irgendwann waren die Tierbestände wohl zu stark bejagt worden. Es ging das
Gerücht von einem großen Bär um, der ganze Herden gerissen haben sollte. Und als
es immer weniger zu jagen gab, wandten die Leute Spoon den Rücken zu. Der alte Lloyd
ging pleite und sein Sohn Harry Jr. ist noch heute als schräger Kauz bekannt,
der wirres Zeug brabbelt und hin und wieder das Knallen einer Schrotflinte
imitiert.
Doch
es hat auch Vorteile, hier zu leben. Die Leute sind zwar misstrauisch, aber zu
bequem um den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Ein verkniffener,
mürrischer Blick ist denen meist Antwort genug. Sowas versteht man hier unter
Charme.
Es war ein grauer
Vormittag, an dem ich wie üblich in der Schule saß und Qualen litt.
„… anschließend
legen Sie die Zwiebelhaut unter das Mikroskop und fertigen eine detaillierte
Zeichnung an.“
Ich
lag gelangweilt auf meinem Tisch in der letzten Reihe, die Arme in Protesthaltung
verschränkt, und starrte das Mikroskop an, als hätte es mir ein persönliches
Leid angetan. Jahr für Jahr das gleiche. Ich war verdammt. Verdammt auf ewig im
Körper eines Siebzehnjährigen leben zu müssen. Einschließlich des ständigen
hormonellen Durcheinanders. Ich warf einen beiläufigen Blick nach vorne.
Kaylens honigfarbenes Haar glänzte in der Sonne.
Wie
konnte jemand nur so schön sein? Ihre Augen, die, wenn sie mich ansahen, so
tief wirkten, wie der Ozean. Als könnte man durch sie direkt in ihre Seele
blicken. Kaylens schön geschwungene Lippen, die von dem stillen Versprechen
eines sanften Kusses begleitet wurden. Ihr unglaublicher Duft. Die Art, wie sie
sich bewegte oder lächelte. Die außergewöhnliche Symmetrie ihrer Ohrläppchen.
Zugegeben,
das mag trivial klingen im Vergleich zu ihren anderen, offensichtlicheren
Attributen, doch selbst ihre Ohrläppchen waren – es gibt einfach kein
passenderes Wort – perfekt. Ich habe genug Menschen in meinem Leben beobachtet,
um Perfektion zu erkennen, wenn ich sie sehe. Und diesmal saß sie nur wenige
Meter von mir entfernt.
Mit
einem Mal überkam mich eine so starke Sehnsucht Kaylens Haar zu berühren, dass
mir ganz schlecht wurde. Sie saß vorne in der zweiten Reihe. Rechts neben ihr
Nick Gorilla-Arm. Nick stank. Und zwar nach Schweiß und Turnschuhsohlen. In
seinem Blut nahm ich Spuren von Aufputschmitteln war. Aufgepumptes Kleinhirn!
Sein Blut war das absolut letzte auf der Welt, das ich trinken wollte.
Er
schob das Mikroskop zu
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