Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück

Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück

Titel: Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
Vom Netzwerk:
 

    SPITZKLIPP
    W ie oft er den steinigen Pfad von der Wiese hinauf zum Gehöft und wieder zurück gegangen war, hatte er nicht gezählt, auch nicht, wie oft er den anderen Knechten und Erik begegnet war. Am Morgen hatten sie noch gescherzt, dann kämpfte jeder wortkarg gegen Schweiß und Müdigkeit. Wir sind zweibeinige Heukopfwesen, dachte er, und ich ersticke bald an dem Geruch.
    Das Segeltuch, aufgebläht mit Heu, trug er auf Nacken und Schultern, die letzte Bürde für heute. In der Scheune entledigte sich Tyrkir seiner Last, faltete den Stoff, und während er über den Hof schlurfte, kratzte er nach Flöhen. Überall mussten neue Beißer sitzen, unter dem Kittel, am Hals und auf den Armen.
    Bis auf die beiden senkrechten Stämme, den Querbalken und die aus Treibholz gezimmerte Tür war nichts vom Haupthaus zu erkennen: ein länglicher Erd- und Grashügel, aus dem Rauch aufstieg, nicht mehr.
    Der schmächtige Siebzehnjährige trat ein. Dunkelheit empfing ihn, modrig rochen die Grassoden zwischen den Flurstützen, und nach drei Schritten öffnete er die Innentür.
    »Trink was!« Gleich neben dem Eingang der Wohnhalle stand Erik am Fass. Das rote Haar verschwitzt, grinste er Tyrkir an, schöpfte Sauermilch und reichte dem Sklaven die Kelle. »Unsere erste Ernte. Den Göttern sei Dank! Sollst sehen, wenn wir unsern Stier und die Kühe über den Winter bringen, dann haben wir’s geschafft.«
    Durstig leerte Tyrkir den Schöpfer, tauchte ihn nochmals ein und trank wieder. Trotz des Standesunterschiedes verband ihn eine enge Freundschaft mit dem drei Jahre älteren einzigen Sohn des Bauern Thorvald. »Schmeckt heute besser als jedes Bier bei uns zu Haus.«
    »Wir sind jetzt hier zu Haus!« Erik ballte die Faust. »Vergiss endlich Norwegen. Hier ist Island! Und bei Thor, diese menschenleere, steinige Gegend wird uns nicht in die Knie zwingen. Niemals!«
    »Schon gut. Ich glaub’s ja auch. Nur reicht das Heu bis jetzt vielleicht einen Monat.« Ehe Erik etwas einwenden konnte, setzte Tyrkir hinzu: »Ja, ich weiß, wir haben noch drei Weiden mit gutem Gras gefunden. Ich weiß.«
    Der Rothaarige warf die langen, zottigen Strähnen zurück und wandte sich um. Durch die Halle rief er: »Besser wird’s, Vater! Unser kluger Deutscher meint es auch. Es wird gut gehen, du wirst schon sehen.«
    Keine Antwort kam von der Hochbank mitten vor dem Langfeuer, das wie ein Glutband den Hauptteil der Halle durchzog. Der Schein huschte rechts und links über die Reihen der unbehauenen Stützstreben und verlor sich im Halbdunkel der beiden Seitenräume.
    »Morgen sollten wir unser Schiff weiter auf den Strand ziehen, Vater. Wer weiß, wie viele Tage das gute Wetter noch anhält.«
    Keine Antwort. Erik verengte die Augen. Kein Handzeichen? Kein Kopfnicken?
    Tyrkir zuckte die Achsel. »Der Herr schläft.«
    »Ach was, bei meiner Stimme wacht jeder auf, selbst wenn er keine Ohren hat.« Jäh erstarb Erik der Scherz auf den Lippen.
    Die jungen Männer sahen sich an und zugleich hasteten sie zum Ehrenstuhl. Dort saß Thorvald, starr aufgerichtet, den grauhaarigen Kopf an der Rücklehne, seine Augen stierten blickleer ins Feuer.
    »Vater!?«
    Tyrkir legte dem Freund den Arm um die zitternden Schultern. So standen sie lange, als warteten sie noch, hofften, dass die Wahrheit nicht wahr wäre.
    Lärm, Gelächter näherte sich von draußen, die übrigen fünf Knechte kamen mit den beiden Mägden in die Halle.
    Schnell ging Tyrkir ihnen entgegen und hob warnend die Hände. »Still. Schweigt! Der Herr ist tot.« Erst ungläubig, doch als sie den harten Zug im schmalen, sommersprossigen Gesicht wahrnahmen, begriffen sie. Die Frauen pressten ihre Lippen aufeinander, die Leibeigenen nickten, einer von ihnen stöhnte auf.
    »Geht wieder hinaus, bis ihr gebraucht werdet!«, sagte Tyrkir leise und kehrte um.
    Der Sohn wartete bereits im Halbdunkel hinter seinem Vater. Langsam näherte sich Tyrkir, dabei blieb er eng an der rechten Reihe der Stützstreben; von eines Toten Blick getroffen zu werden brachte Unglück. Nur das nicht, dachte er, zu groß war die Gefahr, dass sich der letzte Gedanke des Bauern in ihm einbrannte und auf ewig Qual bereitete. Er schlüpfte in den Seitenraum, tastete auf Tischen und Bänken nach einem Wolllappen und riss ihn zu kleinen Fetzen.
    Schweigend verständigten sich die beiden. Sie waren bereit. Erik trat von hinten auf den Hochsitz zu, umgriff die Rücklehne und schloss dem Vater die Lider. Aus den Augenhöhlen würde

Weitere Kostenlose Bücher