Herbstbringer (German Edition)
hastig und schloss die Tür. »Wir sind niemals wie Menschen, hörst du? Wenn das dein Vater hört. Abgesehen davon will es die Legende so, ja. Erst durch die Taufe gewinnen wir unsere Unsterblichkeit. Und unsere Stärke.«
Wie konnte man sich nur wünschen, unsterblich zu sein? Schon jetzt schreckte Levana bei dem Gedanken an ein Leben zurück, das einfach nicht enden würde. Wie sollte sie nur mit dieser Schuld umgehen, wenn die Last der Jahrhunderte auf ihre Schultern drückte?
Diese starren Augen …
»Unsere Stärke«, murmelte Levana abfällig. »Was soll stark daran sein, Wesen zu töten, die schwächer sind als wir?«
»Levana, bitte«, flehte ihre Mutter sie an. »Sie dürfen uns nicht hören!«
»Ich denke, ich bin etwas Besonderes. Wieso merke ich davon nichts? Sollte man da nicht ein wenig Respekt vor mir haben? Sollte … sollte Vater nicht stolz auf mich sein?«
»Ich bin mir sicher, dass er das ist. Er zeigt es nur nicht.« Es brannte, als ihre Mutter ihre verklebten Haare von dem Blut befreien wollte. »Ich könnte nicht stolzer auf dich sein, Levana. Du bist alles, was ich habe. Verstehst du denn nicht? Deshalb bist du hier – deshalb bin ich hier.«
Levana schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe es wirklich nicht.«
Zärtlich strich ihre Mutter über ihre nassen Haare. »Du weißt, weshalb es so wenig Nachwuchs unter Vampiren gibt.«
»Ja«, sagte sie knapp. Sie verspürte wenig Lust, ein weiteres Mal die Schilderungen von grausam zugerichteten Vampirinnen zu hören, die noch während ihrer Schwangerschaft qualvoll verendet waren. Bei lebendigem Leib von innen heraus aufgefressen von der Saat, die sie in sich trugen.
»Du weißt auch, dass seit deiner Geburt kein Vampir mehr geboren wurde.«
»Ja doch, Mutter«, sagte sie irritiert. »Deshalb machen doch alle diesen Aufstand um mich. Was ich nur nicht verstehe, ist: Weshalb sollte mir dieselbe Gabe gegeben sein, die dich überleben ließ? Und wie äußert sich diese Gabe überhaupt? Alle sagen, dass ich eine besondere Kraft in mir trage, doch wie spüre ich sie?«
»Du spürst sie schon längst«, sagte ihre Mutter leise. »Hör mir zu, mein Kind: Die Welt, in die ich dich geboren habe, ist grausam und kalt. Der Stärkste gewinnt, der Schwächste wird unterdrückt. Das ist der Lauf der Dinge. Wir können von Glück sagen, zu den Starken zu gehören, auch wenn dir dies nun gerade nicht sonderlich klar sein mag. Ich weiß, was ich dir gerade angetan habe.«
Sie hielt inne, und für einen kurzen Moment bemächtigte sich tiefer Kummer ihrer Züge. »Ich habe es aber auch getan, um dich zu schützen. Alle werden denken, dass die Kräfte, die in dir schlummern, nun freigesetzt werden. Für sie besteht kein Zweifel, dass du ein besonders mächtiger und skrupelloser Vampir sein wirst, der den Fortbestand unserer Art sichern wird. Wie es die Legende besagt. Das wird dir einerseits Respekt innerhalb, andererseits Feinde außerhalb dieser Familie verschaffen. Doch was immer auch passiert: Du musst sie in dem Glauben lassen, diese Kräfte wirklich zu besitzen.«
»Also habe ich diese Kräfte gar nicht?«, fragte Levana verwundert, während sie ihre Haare auswrang. Vergeblich versuchte sie, das rote Badewasser zu ignorieren.
»Oh doch.« Ihre Mutter küsste ihre Schläfe. »Aber nicht die, die alle in dir vermuten. Was ich dir jetzt sage, mein Herz, darf niemand auf dieser Welt erfahren. Hast du das verstanden?«
Levana nickte. Sie wagte es nicht, zu atmen.
»Dieselbe Stärke, die mich deine Geburt überleben ließ, schlummert in dir.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Obschon unsere Art sie als verachtenswerte Schwäche ansehen würde.«
»Welche Stärke, Mutter?«
»Ich habe die Geburt nur aus einem einzigen Grund überlebt. Ein Grund, den die anderen weder verstehen werden noch jemals erfahren dürfen. Weil ich meine Seele nicht verloren habe.«
Auf dem Rückweg zur Regent’s Park Station spürte Emily, dass etwas nicht stimmte.
Den Großteil des Weges hatte sie in einer Art Trance verbracht, aus der sie nun erst wieder zu sich kam. Etwas hatte sie aus ihren Gedanken gerissen, hatte sie derart abgelenkt, dass die Worte ihrer Mutter und die Szenen, an die sie sich erinnert hatte, in den Hintergrund traten und ihre Umwelt einblendeten.
Es war später Nachmittag. Nach langen Überlegungen hatte sie sich dazu entschieden, doch zu Elias zurückzukehren. Noch immer sah sie keine wirkliche Alternative, auch wenn ihr Vertrauen zu ihm
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