Herbstbringer (German Edition)
mit Gerüchten ist«, fügte er nach ihrem entsetzten Blick schnell hinzu. »Andere sagen, dass er damals an der Seite der Bauern entschlossen gegen die Unterdrückung durch die Mächtigen gekämpft hat. Elias redet nicht über diese Zeit, also sind diese Gerüchte alles, was wir haben. Was auch immer wahr sein mag – sechshundert Jahre hat er locker auf dem Buckel.«
Emily wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kam sich vor wie ein dummes Kind, das einer albernen Lügengeschichte aufgesessen war. Wieso hatte er behauptet, er sei kaum älter als sie? Wie sollte diese Lüge sie schützen? Sie zweifelte immer mehr an ihm. Wollte er am Ende nicht sie, sondern sich selbst schützen?
»Ich werde gehen«, sagte sie unvermittelt. Wenn er nicht nach den Regeln spielte, würde sie das auch nicht länger tun.
»Gehen?« Echte Verwunderung kroch über Ambroses Züge.
»Ich kann nicht anders. Ich habe das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt oder ich ersticke, wenn ich noch einen weiteren Tag hier in diesem Raum verbringen muss.« Er erwiderte nichts, was sie stillschweigend als Verständnis interpretierte. »Hier habe ich die ganze Zeit das Gefühl, im Weg zu sein oder irgendwelche Erwartungen nicht zu erfüllen, von denen ich nicht mal weiß, dass man sie an mich gestellt hat. Das macht mich wahnsinnig!«
Ambrose nickte nur. Das Buch lag aufgeklappt in seinem Schoß. Emily hatte das Gefühl, dass er wusste, wovon sie sprach.
Sie bemühte sich, ihre Stimme möglichst überzeugend klingen zu lassen. »Entweder du bringst mich durch einen der Tunnel an die Oberfläche, oder ich suche mir selbst einen Weg.«
Nach diesem Worten tanzte die Ahnung eines Lächelns auf Ambroses schmalen Lippen, und für einen Moment war Emily überzeugt davon, dass sie es allein mit der Totenwelt unter der Stadt aufnehmen musste. Dann stand er auf und zog sich einen alten Stoffmantel über. »Was mich angeht«, sagte er ernst, als sie in den Keller hinabstiegen, »hast du meine Erwartungen mehr als erfüllt, Herbstbringer. Sowohl die guten als auch die schlechten.«
Luft. Frische, herrliche, kalte Luft. Emily sog sie gierig ein.
Sie fand sich am Rande einer gewaltigen Grünanlage wieder, den selbst sie als Regent’s Park erkannte.
Der Wind auf ihrem Gesicht fühlte sich wunderbar an. Sie genoss es, wie er mit ihren Haaren spielte und sie buchstäblich in die Arme schloss. Augenblicklich beruhigte sie sich. Die innere Anspannung, die sie seit ihrer ersten Reise durch die Unterwelt ergriffen hatte, legte sich spürbar. Sie fühlte sich wieder vollständig. Vollständig und stärker.
Ambrose hatte sie auf anderen Pfaden durch das Dunkel geführt als Rufus und Willie – das hatte sie auch mit Augenbinde bemerkt. Die meiste Zeit war das Brummen und Dröhnen der U-Bahnen besorgniserregend nah gewesen, auf dem letzten Stück hatte sie sogar die eiligen Schritte großer Menschenmassen vernehmen können. Sie mussten unmittelbar neben einer der U-Bahn-Stationen durch das Dunkel geeilt sein.
Erst wenige Meter vor einer massiven Metalltür hatte er ihr das Tuch von den Augen genommen.
Entsetzt hatte sie festgestellt, dass sie recht gehabt hatte, was ihre vermutete Position anging. »Keine Sorge«, hatte Ambrose sie sogleich beschwichtigt, »die Sirenen meiden diesen Bereich. Sei bei Einbruch der Nacht zurück. Ich werde nicht nach dir suchen, wenn du nicht da bist.« Dann hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
Zwei Stunden später stand sie vor dem prunkvollen Eingangstor des Highgate Cemetery . Wenn niemand ihre Fragen beantworten wollte, musste sie eben auf eigene Faust suchen. Trotz ihrer übereilten Flucht aus der Regent’s Park Station war sie noch kurz in einen Kiosk gestürmt, um einen Blick auf eine der aktuellen Tageszeitungen zu werfen. Den plakativ getitelten Überschriften von weiteren rätselhaften Vorkommnissen in den Docklands hatte sie abermals keine Beachtung geschenkt – sie wollte schlicht und ergreifend herausfinden, welcher Wochentag eigentlich war. Montag. Sie war erst seit vier Tagen in der Stadt! Es fühlte sich an wie Wochen.
Entschlossen ging Emily auf den Friedhof und schritt durch die grabgesäumten Alleen. Wenn sie irgendwo Antworten finden würde, dann am Grab ihrer Mutter.
Trotz Elias’ Warnung musste sie das Risiko eingehen, das ihre Erinnerungen darstellten. Vielleicht war sie dabei, eine gewaltige Dummheit zu machen. Vielleicht hatte er ihr aber auch etwas verschwiegen.
Es wäre nicht das erste
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