Herbstbringer (German Edition)
Schwester.
»Ich war so eine idiotische Egoistin!«, brach es aus Sophie heraus. »Die ganze Zeit habe ich nur an mich gedacht und mich von deinem Verhalten gestört gefühlt. Wie schwer es für dich sein muss, hier ein neues Leben anzufangen, ist mir nie in den Sinn gekommen.«
»Schon gut«, beruhigte Emily sie. »Darum ging es mir eigentlich gar nicht. Ich will nur, dass du verstehst, warum ich zurzeit so neben mir stehe.«
Sophie nahm sie als Antwort in die Arme. Auch das hatte sie sehr lange nicht mehr getan. Es fühlte sich gut an, wenigstens eine Verbündete im Kampf gegen die grauen Fluten der Vergangenheit an ihrer Seite zu wissen. Auch wenn sie es immer noch nicht wagte, Sophie die ganze Wahrheit zu erzählen. Erst musste sie mit Jake reden.
Jake.
Da war er wieder. Hartnäckig machte er es sich in ihrem Kopf bequem und verdrängte alle anderen Gedanken. Oder fast alle. Die, die spitze Zähne und rote Flüssigkeiten zum Inhalt hatten, ließen sich selbst von ihm nicht verscheuchen.
»Weißt du eigentlich, wo Jake steckt?«
»Nein, keine Ahnung.« Sie grinste. »In letzter Zeit warst du meine verlässlichste Quelle, was ihn angeht.«
»Hm«, machte Emily nur.
»Sag bloß, du hast noch nichts von ihm gehört, seit wir wieder da sind? Das sieht ihm aber gar nicht ähnlich. Ich meine, ich hätte erwartet, dass er bei uns vor der Haustür sitzt, wenn wir zurückkommen. Wie ein kleiner treuer Hund.«
Bei dieser Vorstellung musste selbst Emily grinsen. »Na ja, es geht niemand ans Telefon, in der Schule war er auch nicht.«
»Jetzt wo du es sagst: In der Bibliothek war heute nur eine Vertretung, nicht der alte Graham. Nicht, dass ich es bedauert hätte …«
»Ist es normal, dass Jake manchmal einfach verschwindet? Ich meine, sollten wir uns vielleicht Sorgen machen?«
»Ach, das glaube ich nicht. Sein Opa hat ihn wohl nur auf einen seiner seltsamen Ausflüge mitgenommen.«
Als sie sich später unruhig im Bett hin und her wälzte, hoffte sie, dass Sophies grenzenloser Optimismus diesmal gerechtfertigt war.
Wirre Bilder von Wesen aus verrottetem Blattwerk und Winden, die Worte vor sich hertrieben wie gefallenes Laub, begleiteten sie in unruhigen Halbschlaf.
Draußen hallte das Windspiel einsam durch die Nacht.
10
Michael war nicht gerade gesprächig. Wenn man seit so langer Zeit auf dieser Welt wandelte wie er, ganze Sprachkulturen kommen und gehen sehen und die Entwicklung der englischen Sprache von ihren ersten Ursprüngen vor weit mehr als tausend Jahren bis in die Gegenwart leibhaftig miterlebt hatte, redete man nur noch, wenn es sich wirklich lohnte. Was so gut wie nie der Fall war.
Es kam vor, dass er tagelang kein Wort von sich gab. Diese Tage genoss er ganz besonders. Dafür dachte er umso mehr nach, zog sich in den letzten Jahren immer öfter aus der Öffentlichkeit und in seine Gedankenwelt zurück. Viele alte Vampire kapselten sich auf diese Weise Stück für Stück von einer Welt ab, mit der sie nichts mehr zu tun haben wollten.
Niemand kann eine endlose Menge von Eindrücken und Erfahrungen speichern.
Noch nicht einmal Michael.
Schweigend strich er durch lange Korridore wie der immer länger werdende Schatten der vergehenden Sonne. Balthasars Schreie waren längst verstummt, Mozarts tragisches Requiem zu seinem tosenden Finale gekommen.
Er hatte das Antlitz dieser Welt länger terrorisiert als die meisten anderen Vampire. Er hatte gesehen, wie Weltreiche aufstiegen und zu Staub zerfielen, war bei der Krönung hochgelobter Könige anwesend gewesen, die bereits wenige Generationen später vor lauter Schande aus den Chroniken getilgt und dem Vergessen übereignet worden waren.
Er hatte Kriege gefochten, auf der Seite der Sieger wie auch der Verlierer. Er wusste mehr als jeder andere, dass Geschichte von Siegern geschrieben wurde. Von Mördern, Verrätern, Intriganten, Wahnsinnigen, Ehebrechern, Bösewichten; ebenjenen, die schon immer auf dem Thron der Welt saßen. Personen wie ihm.
Über all jene Zeitalter hinweg hatten Michael und andere seiner Art verhindert, dass die Vampire Eingang in die Chroniken, Nationalepen und Geschichtsbücher fanden. Dafür hatten sie die Albträume bevölkert.
Bis man sie auch aus ihnen verdrängt hatte.
Vieles war nicht nach Plan verlaufen. Noch immer führten sie eine Schattenexistenz, beschränkten die Kontakte zur Welt der Menschen schon lange auf einige wenige Aufgeklärte, unterdrückten ihren Jagdtrieb und bekriegten sich stattdessen
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