Herbstbringer (German Edition)
umgestürzten Kreuz.
Emily konnte eine völlig überwucherte Steinplatte unter dem Gestrüpp ausmachen. »Das da?«, fragte sie.
Nach seinem ermutigenden Nicken ging sie in die Knie und entfernte Flechten, Dornen und Efeu von dem unscheinbaren Stein. Zunächst dachte Emily, es mit einem ganz gewöhnlichen Mauerstein zu tun zu haben, der mit gekonnten Meißelarbeiten verschönert worden war.
Dann erkannte sie das Muster.
Ein Laubornament aus einzelnen, aneinandergereihten Blättern zog sich über den gesamten Stein. Sie kannte es. Es war identisch mit dem, das auf dem Holzstück eingebrannt gewesen war, das der Bauer damals bei ihrem leblosen Körper gefunden hatte.
»Was … was ist das?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Er ging neben ihr in die Hocke. »Das, Herbstbringer, ist etwas, das es eigentlich gar nicht geben dürfte.«
»Was meinst du damit?«
Zur Antwort legte Elias den Stein komplett frei. Eine Inschrift schälte sich Stück für Stück aus dem Unkraut hervor, jahrzehntelang verborgene Worte kamen wieder zum Vorschein.
The giant trees are bending
Their bare boughs weighed with snow;
The storm is fast descending,
And yet I cannot go.
»Kommt dir das bekannt vor?«, fragte er, als er die letzten Ranken von dem Stein gezupft hatte.
Es kam Emily bekannt vor. Und das nicht nur, weil sie gerade erst auf dem Grab ihrer Mutter die erste Strophe dieses Gedichts gelesen hatte. Auch das Holzstück, das der Bauer bei ihr gefunden hatte, trug Verse dieses Gedichts. Fragend blickte sie ihn an.
»Ganz recht. Wieder Emily Brontë. Dieser Stein wurde dir zu Ehren hier aufgestellt – weit abseits vom Grab deiner Mutter, wo niemand herumschnüffelt. Das Gedicht wurde dir zu Ehren geschrieben.«
Fassungslos blickte Emily zwischen dem Stein und Elias hin und her. Das Gedicht handelte gar nicht vom nahenden Tod der kranken Dichterin. Sie hatte es für Emily geschrieben – und griff darin ihre Einkerkerung unter der Erde auf. »Wer hat das angelegt?«, fragte sie mit trockenem Mund.
»Das weiß ich nicht. Es ist alles im Geheimen geschehen.«
Emily schluckte. Mühsam hielt sie Tränen zurück. »Das Gedicht …« Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. »… es ist unvollständig.«
Elias nickte. »Ja und nein. Die dritte Strophe befand sich auf …«, er zögerte, »… auf deinem Sarg. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber ich war mir sicher, dass du es sehen wolltest.«
Der Holzsarg in der Erde, den sie durch die Augen ihrer Mutter gesehen hatte, war ihrer gewesen!
»Gehen wir?« Elias’ Stimme durchdrang ihr Gedankendickicht. »Es wird bald zu hell. Es ist schließlich nicht jeder so wie du.«
»Kannst du etwa nicht bei Tageslicht draußen sein?«, fragte Emily ehrlich erstaunt, dankbar, das Thema endlich wechseln zu können.
»Das können die wenigsten. Morgens und abends ist es noch einigermaßen auszuhalten, aber in den Mittagsstunden sind die Schmerzen unerträglich. Auch mit Sonnenbrille.« Er grinste, als sie weitergingen.
»Okay, aber warum kann ich es dann?«, hakte Emily nach. Wenn sich Elias schon mal zu etwas äußerte, wollte sie auch so viel wie möglich erfahren.
»Das ist eines der Mysterien, die dich seit jeher umgeben, Herbstbringer. Viele sagen, es ist ein Zeichen deiner Macht. Andere sagen, es ist der Preis für deine Annäherung an die Menschen.«
»Und was meinst du?«
Elias lächelte nur. »Das tut nichts zur Sache. Komm!« Er griff nach ihrer Hand. »Ich kenne da eine gute Bar, in der wir uns aufwärmen können. Außerdem möchte ich dir einige Freunde vorstellen.«
»Welche Bar hat denn jetzt schon geöffnet?«
»Schon?« Elias lachte. Der helle Laut stand in krassem Widerspruch zu der durchdringenden Stille des frühen Morgens. »Du stellst vielleicht Fragen.«
Er führte sie durch den wabernden Nebel in den frühmorgendlichen Straßen Londons. Währenddessen erzählte er ihr, was damals geschehen war. Er berichtete Emily von der Macht ihrer Familie und ihrem herrschsüchtigen Vater; von den vier einzigen Vampirfamilien und wie sie seit Menschengedenken die Geschicke der Welt mitbeeinflussten; von dem Aufruhr, den die Vampirwelt im Zuge ihrer Rebellion durchlebt hatte und von der sie sich bis heute nicht erholt hatte; von der strengen Hierarchie in den Familien und deren bedingungslosem Machtstreben; vom Machtverlust ihrer Familie und den daraufhin ausbrechenden Ständekämpfen, die ohne eindeutigen Sieger blieben und den Herbstbringer zu der
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