Herrentier
Polizisten und Gregor an, den Mund zu einem tonlosen »Aaaa« geöffnet. Unmittelbar vor ihm knieten Evelyn und Jeanette mit den Gesichtern nach unten und den Händen an die Scheibe des Quallenkreisels gestützt. Erst jetzt erkannte Gregor, dass beide offenbar geknebelt waren und Jeanettes Füße mit einem Gürtel gefesselt wurden.
»Frau Hammer, Frau Albrecht, Sie können ihre Hände herunternehmen und aufstehen. Hier ist die Polizei. Sie sind jetzt in Sicherheit.«
»Sie hat versagt«. Enttäuscht nickend zählte Kramer die Elemente seiner 8-mm-Perkussionspistole, während auch er die Arme sinken ließ. »Einfach versagt, 7 000 Euro für schottischen Schrott«, flüsterte er.
» Du hast versagt, nicht die Pistole«, sagte Evelyn, die mittlerweile Jeanette von ihrer Fußfessel befreite. Sie trat näher an ihn heran. »Du, einzig und allein du!«
Kramer drehte seinen Kopf, Orientierung suchend. Mit panischem Blick fasste er sich ans Ohr, klopfte es, betastete es von allen Seiten.
»Mein Ohr«, seine Stimme klang verzweifelt, »es ist taub.«
Behnke und Schwarz sahen sich gleichzeitig an. »Das ist ja doof.« Ein Lächeln huschte über ihre Gesichter. Gregor fiel eine Zeile eines Liedes ein, auf dessen Titel er gerade nicht kam. »Life is such a big joke, why should I care?« Er lachte. Während er den Song summte, dachte er an Madeleine, an Uta und Jutta, daran, dass er sie sehen und umarmen musste. Jetzt. Gregor warf einen letzten Blick auf den Professor, auf Jeanette und Evelyn. Dann verließ er den Raum und rannte zum Ausgang des Zoos. Vorbei an der Vogelvoliere, den Fischottern, den Bollerwagen stürmte er durch die Drehtür ins Freie.
Mai 1993
» Mach das aus « , sagte Manuela.
Er drehte lauter. » Warum denn, mir gefällt das! « , rief er gegen die Musik an. » I’m crucified « , sang eine unangenehm hohe Frauenstimme. Der Refrain wurde endlos wiederholt. Kreuzigung als Dauerschleife. Und die Band hieß auch noch » Army of Lovers « . Martialischer Kitsch. Der Sound der neuen Zeit, dachte Manuela.
» Mach das aus, bitte! « Ihre Stimme überschlug sich fast. Sie wollte reden. Doch stattdessen befand sie sich mit ihm auf einem seiner Renommiertrips. Er hatte sie eingeladen. Er war großzügig, wie immer, wenn sie ausgingen. Sie tranken Cocktails im » Le Ro « in der Fritz-Reuter-Straße. Sie aßen beim Griechen am Bahnhof oder in einer Kneipe namens » Gartenlaube « , halb Restaurant, halb Jugendstil-Antiquariat. Manuelas Kommilitonen kauften sich währenddessen nach Holz schmeckenden französischen Landwein im » Portcenter « , dem riesigen auf der Warnow schwimmenden Supermarkt im Stadthafen. Und mit ihren letzten paar Mark holten sie sich vor Mayonnaise triefenden Nudelsalat in einem Imbiss gegenüber vom » Warnow-Hotel « . Der nannte sich » Schwedengrill « , aber das Speisenangebot hatte nicht mehr viel mit Skandinavien zu tun, wenn die Zutaten die Fritteuse verlassen hatten.
Er hatte an der Universität eine Assistentenstelle bekommen, obwohl er gerade erst sein Studium abgeschlossen hatte. Außerdem wurde er laufend von Unternehmen als Berater angeheuert. Es fehlte den Ex-DDR-Unternehmen, die sich gerade so über die Wendezeit gerettet hatten, an fähigen Leuten, und so griffen sie nach jedem, dessen Hochschulabschluss neuzeitliches Wissen versprach. Dafür revanchierten sie sich mit Honoraren in fantastischen Höhen. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ein Glückpilz war er, und das wollte er allen zeigen.
Nachdem die » Army of Lovers « zum hundertsten Mal den Refrain wiederholt hatte, drückte Manuela wahllos auf Knöpfe an der Stereoanlage im Armaturenbrett, um das Pop-Elend zu beenden.
» Nimm die Finger weg « , herrschte er sie an und bediente vorsichtig den Lautstärkeregler.
Sein neues Auto. Er hatte sich einen VW Passat geleistet. Manuela mochte den Wagen nicht. Von vorn sah er aus wie ein großer, dummer Frosch. Ohne Kühlergrill wirkte die Front irgendwie unvollständig, fand Manuela. Außerdem war das Auto riesengroß und spießig. Die Sonderausstattung hatte er sich einiges kosten lassen, und außer einer Halterung für den tonnenschweren Akku des Mobiltelefons verfügte der Wagen über einen CD-Player. Leider besaß er nicht allzu viele CDs, weshalb der letztjährige Sommerhit bei ihm auch in diesem Frühjahr noch ein Dauerbrenner war.
Manuela hörte immer noch Schallplatten und war zufrieden damit. Wenn sie telefonieren wollte, pilgerte sie zu der
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