Herrgottswinkel
das alte Bauernhaus mit einem beklommenen Gefühl in der Brust, rannte die Treppe hinauf und den schmalen, schier endlosen Flur entlang. Meine Schritte wurden immer schneller. Abrupt riss ich die Tür auf und bereits von hier aus konnte ich meine Mutter in der Küche weinen hören. Ich ließ beide Taschen achtlos auf den Boden fallen und eilte zu ihr. Sie saß mit einer Tasse schwarzem Kaffee am Tisch, ganz zitterig hielt sie eine Zigarette in der Hand und zog hastig daran. Noch immer liefen dicke Tränen aus ihren Augen.
»Wo ist der Papa?«, rief ich, weil ich ihn nirgendwo sah. »War er in dem Krankenwagen, der mir begegnet ist?«
»Ja, sie haben ihn gerade geholt.« Nach einer kurzen Pause und zwei hastigen Zügen an der Zigarette fuhr sie fort: »Er hatte heute Nacht einen Schlaganfall!«
Ich glaubte nicht, was ich da hörte. Taumelnd setzte ich mich auf den Küchenstuhl. Innerlich hatte ich zwar schon lange gewusst, dass etwas Schlimmes bevorstand. Aber mit einer solch schlimmen Nachricht hatte ich nicht gerechnet!
»Gegen Morgen musste er wohl mal raus und ist dabei umgefallen. Ich habe ihn mit all meiner Kraft ins Wohnzimmer gezerrt und auf die Couch gehoben. Er konnte nicht mehr aufstehen. Dann habe ich ihn gewaschen und frisch angezogen, denn ihm war schlecht und er hatte sich erbrochen. Heute früh habe ich dann den Doktor angerufen«, strömte die ganze Katastrophe aus meiner Mutter heraus.
»Und dann?«, fragte ich entsetzt.
»Der Doktor hat gesagt, dass er später vorbeikommt, da das Wartezimmer voller Leute sei.«
»Warum hast du nicht gleich im Morgengrauen den Notarzt gerufen – oder zumindest mich?« Ihre Sorglosigkeit wollte mir nicht in den Kopf.
»Ich habe doch nicht gedacht, dass es so schlimm ist«, erwiderte meine Mutter mit zittriger Stimme. »Heinz ist halbseitig gelähmt, der Doktor hat es gleich erkannt, da die rechte Gesichtshälfte so schlaff herunterhing. Und sprechen kann er auch nicht mehr!«
Wir saßen beide am Küchentisch und weinten. Als ich ging, zündete sich meine Mutter eine neue Zigarette an. Heute sagte ich nichts, heute war es mir ziemlich egal.
Schnell eilte ich nach Hause, verstaute die gekauften Lebensmittel in der Küche. Dann zog ich mich warm an, nahm meinen Regenschirm und ging in den nasskalten Regen hi naus. Mir peitschte der Wind ins Gesicht. Frische, kalte Luft, das tat mir gut. Im Dorf ging ich schnell an dem Haus vorüber, in dem ich aufgewachsen war. Weiter und immer weiter Richtung Bihlerdorf. Jetzt kam schon Waldhörs Stadel auf der linken und der Baggersee auf der rechten Seite, ich hörte die Enten von Weitem schreien. Für den Kindergarten war es noch viel zu früh, Susanne konnte ich erst gegen halb zwölf Uhr abholen.
Ich schlug den Weg links zu Roths Burgel ein, die schwarzen Bäume bogen sich und rauschten bedrohlich im starken Wind. Ich betete, ich weinte, ich schrie, so laut ich konnte. »Warum ausgerechnet mein Papa? Hilf ihm, lieber Gott im Himmel, steh ihm bei!« Der Wind hatte meinen Schirm geknickt, ich warf ihn im Tobel achtlos auf die Seite. Jetzt ging es steil hinauf, und ich betete die ganze Zeit, bis ich beim Schwarzkopf vorbei wieder den Weg bergab durch den Wald Richtung Bihlerdorf kam. Starker Schneeregen hatte eingesetzt, ich erreichte den Kindergarten total durchnässt und vor Anstrengung heftig atmend. Susanne wartete bereits auf mich, und während wir nach Hause liefen, erzählte ich ihr, was mit ihrem Großvater passiert war. Einige Stunden später klingelte es an unserer Wohnungstür. Helga holte uns mit dem Auto ab, damit wir meinen Vater im Krankenhaus besuchen konnten. Ich setzte mich ans Steuer, sie war zum Fahren zu aufgeregt, Susanne kam auf den Rücksitz. Im Krankenzimmer war gerade ein junger Arzt bei meinem Vater und untersuchte ihn. Wir warteten auf dem Gang.
»Warum gehen wir nicht rein zum Opa?«, fragte Susanne.
Meine Mutter schluchzte hemmungslos, und ich nahm sie in den Arm. Jetzt muss eben ich stark sein, dachte ich. »Wir können erst zum Opa, wenn der Doktor mit der Untersuchung fertig ist.«
»Was ist eine Untersuchung?«, kam die nächste Frage.
»Bei einer Untersuchung stellt der Doktor fest, was dem Patienten fehlt«, sagte ich.
»Was ist ein Patient?« Susanne gab keine Ruhe.
Ich sparte mir eine Antwort.
»Warum wird der Opa untersucht?«, machte sie mit ihrem Fragespiel weiter.
»Ich habe dir doch schon alles erklärt, als wir vom Kindergarten heimgelaufen sind, Susanne! Jetzt sei bitte
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