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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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führten mit einer anderen Frau ein neues Leben. Für sie brach eine Welt zusammen. Schon wieder hatte sie sich von Grund auf in einem Menschen getäuscht, den sie liebte, dem sie Kinder geschenkt hatte und mit dem sie durch viele Höhen und Tiefen gegangen war. Schon wieder war sie in ihrer Gutmütigkeit und Selbstlosigkeit nur ausgenützt worden. Für sie war die Liebe ehrlich und rein gewesen, wieso passierte es also immer ihr, dass die Männer Liebe nur vorspielten? Beim Rennen liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie wischte sie nicht fort. Er sollte sehen, wie sie litt. Er sollte nie vergessen, was er ihr angetan hatte.
    Als sie den Bahnsteig erreichte, sah sie gerade noch das rote Rücklicht am letzten Waggon des Zuges hinter einer Kurve verschwinden.

JULIA

»DAS IST BEI WEITEM DIE TRAURIGSTE GESCHICHTE, DIE du mir bisher erzählt hast, Tante Rosel«, sagte ich, während wir mit den Kindern auf dem Weg zurück zu ihrem Haus waren. »Woher nahm Anna bloß die Kraft, so viel zu geben? Und das durchzuhalten, obwohl sie immer nur im Schatten stand?«
    »Genau deswegen habe ich dir die Geschichte so ausführlich erzählt, Julia. Anna war ein ganz besonderer Mensch. Sie hat in den anderen immer nur das Gute gesehen. Vielleicht konnte sie so viel geben, weil sie selbst nicht viel hatte, hast du darüber schon einmal nachgedacht?«
    »Ich war immer der Meinung, je mehr man hat, desto mehr kann man auch geben«, erwiderte ich.
    »Je mehr man hat, desto mehr will man, so wird ein Schuh daraus! Schau dir doch die Welt an. Wer gibt denn überhaupt, ohne etwas dafür zurückzuverlangen? Solche Gedanken waren Anna fremd. Über sechs Monate hat sie ihre Schulden durch Nähen abstottern müssen. Aber selbst dann ist keine Klage über ihre Lippen gekommen. Ihre Lebensfreude lag gerade darin, dafür Sorge zu tragen, dass es den Menschen um sie herum gut ging, auch wenn sie ihre eigenen Wünsche hintanstellen musste.«
    »Und ich dachte, Glück entsteht aus dem Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen.« Ich war verunsichert, denn in meiner Partnerschaft wollte ich nicht nur die Gebende sein. Ich versuchte, Parallelen zwischen mir und meiner Großmutter zu finden. Wie sie habe ich nie nach dem Morgen, dem Wenn und dem Aber gefragt – ich hatte allerdings im Gegensatz zu ihr das Glück, dem richtigen Mann zu begegnen, der meine Selbstlosigkeit nicht ausgenützt hat. Anna hingegen war gleich zweimal an die falschen Männer geraten.

ERST MIT DREIZEHN HABE ICH ERFAHREN, DASS ICH einen Opa in Leverkusen habe, von dem ich vorher noch nie etwas gehört, geschweige denn gesehen hatte. Meine Tante Erika, die Schwester meines Vaters, bewunderte und verehrte ich sehr. Sie war immer sehr geschmackvoll gekleidet, und ihre Haare waren so schön frisiert. Doch am besten gefielen mir ihre schönen Hände und die perfekt rot lackierten Fingernägel. Darüber hinaus hörte ich ihr immer gerne zu, wenn sie mir von fremden Ländern und Kulturen, über die sie so viel wusste, erzählte – auch die erste Pizza meines Lebens mit Oliven und Kapern bekam ich bei ihr! Sie mochte mich, das spürte ich, und manchmal schenkte sie mir ein kleines Parfümfläschchen. An dem betreffenden Tag besuchte sie meinen Vater und erzählte ihm, dass Erich unheilbar krank sei und ständig nach ihm fragen würde. Doch mein Papa war unnachgiebig und besuchte seinen todkranken Vater nicht.
    Ich dagegen wollte den Opa unbedingt kennenlernen, der da plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Ich wäre gerne mit Erika und German nach Leverkusen gefahren, um meinen Opa einmal zu sehen, doch mein Vater blieb stur, und ich musste zu Hause bleiben. Alles Bitten und Betteln half nichts, Heinz verzieh seinem Vater nicht, nicht einmal auf dem Sterbebett, was er seiner Mutter Anna angetan hatte. Das war sicher auch der Grund gewesen, seine Existenz so lange vor mir zu verbergen.
    Als mein Opa gestorben war, durfte ich wenigstens mit Erika und German zur Beerdigung nach Leverkusen und Abschied nehmen von einem, der aus dem Nichts gekommen und wieder ins Nichts verschwunden war. Dort lernte ich die zweite Frau meines Opas kennen und auch seinen halbwüchsigen Sohn. Viel später habe ich einmal meinen Vater gefragt, was mein Opa so Schlimmes gemacht hätte, dass er ihm nicht einmal auf dem Sterbebett vergeben konnte und ihm selbst seinen letzten Wunsch, ein Wiedersehen, abgeschlagen hatte. Aber mein Vater antwortete nur ausweichend auf meine Frage, er muss seine Mutter, meine Oma

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