Herrgottswinkel
Spiegel darüber – alles war mir so vertraut, nichts war anders als in meinen Kindertagen. Nur der Holzherd kam mir jetzt kleiner vor als damals, doch das mochte auch daran liegen, dass ich seitdem gewachsen war, und neben ihm stand nun ein Elektroherd mit Backröhre, die einzige Neuerung im ganzen Raum. Auf dem Kanapee lagen auch die bequemen pastellfarbigen Sofakissen, mit denen ich gute Erinnerungen verband, hatte ich doch auf ihnen häufig meinen Mittagsschlaf gehalten. Sogar die Wanduhr war noch dieselbe und sie tickte laut hörbar in die Stille des Raumes – obwohl ich das Gefühl hatte, hier sei schon vor Jahrzehnten die Zeit stehen geblieben.
Auch Tante Rosel, die jüngste Schwester meiner Großmutter Anna, schien sich kein bisschen verändert zu haben. Fürsorglich schenkte sie mir eine Tasse Kaffee ein, holte dann noch schnell Semmeln aus ihrem Laden, und so begann unsere erste gemeinsame Brotzeit seit langem. Natürlich kamen wir sofort auf alte Zeiten zu sprechen, in diesem Zimmer schien gar kein anderes Gesprächsthema möglich, und schon bei Tante Rosels Anfangssatz kehrten alle meine Erinnerungen an die hier verbrachte Kindheit zurück.
»Weißt du noch, wie du oft mitten im Sommer in deiner kurzen roten Lederhose und der weißen Baumwollbluse hier am Tisch gesessen bist, weil es dir draußen zu heiß war?«
Während der Sommer hatte meine Tante immer das Gästezimmer und manchmal sogar ihr eigenes Schlafzimmer an Sommerfrischler vermietet, dann lebte sie über Wochen nur in dieser Küche. Die meisten Gäste kamen schon über viele Jahre, und so kannten sie in der Regel auch die kleine Julia bereits. Einige brachten mir sogar Geschenke mit, es kam auch vor, dass ein Gast Tante Rosel für meine Großmutter hielt, da ich so viel Zeit bei ihr verbrachte. Erst wenn die Gäste nach dem Frühstück ausgeflogen waren, um die ›sonnigen Berge‹ und die ›schwindelnden Höhen‹ zu besteigen, frühstückten Rosel und ich zusammen. Oft lagen noch die Brotkrumen oder Semmelbrösel des Gästefrühstücks auf der Tischdecke, doch das störte uns nicht. Von Tante Rosel bekam ich in einer winzigen Tasse so viel ›Muckefuck‹, wie ich wollte, und dazu gab es die köstlichen, oft noch ofenwarmen Semmeln und selbst gemachte Marmelade. Käse, Wurst und Eier waren den Gästen vorbehalten – doch manchmal fütterte ich heimlich, wenn Rosel im Laden Kundschaft hatte, ein Rädchen Wurst an die zwei Angorakatzen, die bei meiner Tante lebten und die mein Ein und Alles waren.
Nach dem Frühstück durfte ich spülen und musste mich dabei auf einen Hocker stellen, da ich noch nicht groß genug war, um in die Spülschüssel auf dem Holzherd greifen zu können. Tante Rosel machte in der Zwischenzeit die Betten der Hausgäste, und wenn sie zurückkam, stand nicht selten die halbe Küche unter Wasser, aber wir lachten nur gemeinsam darüber, nie hätte Rosel mit mir geschimpft, und trockneten das gespülte Geschirr zusammen ab. Dann spielten wir den Rest des Vormittags Mensch-ärgere-dich-nicht.
All diese Erinnerungen hatte der eine Satz von Tante Rosel sofort in mir wachgerufen. Ein wohliges Gefühl über diese Zeit des Glücks breitete sich in meinem Bauch aus.
Mit einem Mal brach es aus mir heraus – ich heulte nur so drauflos, eine tiefe Traurigkeit hatte mich wieder überfallen. Krampfartig schüttelte mich ein nicht enden wollender Anfall aus Verzweiflung, Wut, Selbstmitleid und Enttäuschung, und Tante Rosel setzte sich zu mir auf das Kanapee, legte den Arm um meine Schulter und sah mich nur mit großen, verständnisvollen Augen an.
»Was ist denn los, Julia, so kenne ich dich gar nicht?«, fragte sie schließlich.
Ich musste erst warten, bis der Anfall sich etwas gelegt hatte, bevor ich zum Sprechen in der Lage war. »Bitte hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter.« Dann sprudelte alles aus mir heraus, die Beleidigungen, die Demütigungen, meine prob lematische Ehe, meine Depressionen – unser böser Streit letzte Nacht. Die ganze Geschichte meines Leidens und die Ausweglosigkeit, die alles nur noch schlimmer machte.
Rosel gab mir lange keine Antwort. Schließlich meinte sie nur: »Heute Nacht bleibst du auf jeden Fall hier. Ich muss erst einmal nachdenken.«
So rief ich Franz an, um ihm mitzuteilen, wo ich war und dass ich heute Nacht mit Lukas und Jonas nicht nach Hause kommen würde. Er war hörbar erleichtert, dass er endlich wusste, wo ich steckte. »Bitte kümmere dich um Susanne, auch morgen früh«,
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