Herzblut - Gegen alle Regeln (German Edition)
meistens aus Stacheldraht, manchmal aus breiten Holzlatten, die das Wetter und die Zeit grau gefärbt hatten. Hier draußen konnte man atmen.
Näher bei der Stadt gab es immer mehr dichte Baumgruppen, bis man kurz vor der Junior Highschool und der Mittelschule durch einen breiten Streifen Kiefernwald fuhr. An der ersten Kreuzung mit Ampel begann die Innenstadt von Jacksonville, mit lauter Straßen und reihenweise Geschäften. Unter die einstöckigen Läden mischten sich einige drei- und vierstöckige Gebäude von Banken, Hotels oder Krankenhäusern. Und überall standen noch mehr Kiefern. Sie durchzogen und umringten jedes Wohngebiet und drängten sich sogar gegen die Korbfabrik und die Tomato Bowl, das Freilichtstadion aus Sandstein, in dem alle Football- und Fußballspiele stattfanden.
Früher hatte ich meine Heimatstadt mit ihren süßen Boutiquen und den Antiquitätenläden, in denen Nanna ihre Häkelarbeiten verkaufte, geliebt. Ich mochte sogar die Kiefernreihen, die sich durch die Stadt zogen, und das leise Seufzen, das der Wind den Bäumen entlockte. Wenn die Wiesen und Felder im Winter braunwurden und abstarben, behielt Jacksonville durch die Kiefern das ganze Jahr über frische Farbe.
Aber die Familien der Stadtgründer, die wegen ihrer irischen Vorfahren bei uns nur „der Clann“ hießen, hatten mir alles verdorben. Wenn ich jetzt den Wind in den Bäumen hörte, klang er wie Flüstern, als würden sich sogar die Pflanzen am Tratsch der Stadt beteiligen. Wahrscheinlich war dieses Getratsche der Grund für die lange Reihe berühmter Schauspieler, Sänger, Comedians und Models, auf die das relativ kleine Jacksonville mit seinen dreizehntausend Einwohnern so stolz war. Wenn man hier, wo jeder über jeden redete, aufwuchs, wollte man entweder sein ganzes Leben hier verbringen oder weglaufen und etwas ganz Besonderes werden, um es den Tratschweibern und dem Clann zu zeigen.
Ob ich berühmt werden wollte, wusste ich nicht. Aber auf jeden Fall wollte ich von hier abhauen.
Unsere übliche Strecke zur Jacksonville Highschool führte durch bescheidene Straßen, die von noch mehr Kiefern und ein paar Laubbäumen gesäumt wurden, bevor plötzlich die blaugelbe Heimat der JHS Indians auftauchte. Beim Anblick der dichten, schattigen Wälder, die das Gelände fast erdrückten, verspannten sich meine Schultern und mein Hals.
Willkommen in meinem täglichen Gefängnis für die nächsten vier Jahre. Es gab sogar ein Wachhäuschen und einen Wachmann, der jeden Morgen um Punkt acht eine schwere Metallschranke vor der Einfahrt herunterließ. Kam man zu spät, kassierte man einen schriftlichen Verweis. Einen Lehrer hätte man vielleicht breitschlagen können, damit er einen so hereinließ, aber der Wachmann herrschte so gnadenlos über die Einfahrt zur Schule, als wäre sie das Tor zu einem mittelalterlichen Schloss.
Wenn die JHS ein Schloss war, bestand die königliche Familie eindeutig aus den zweiundzwanzig genauso gnadenlosen Kindern des Clanns, die über die restliche Schule herrschten.
Die Clann-Typen hatten ihre Rüpelhaftigkeit wahrscheinlich ihren Eltern abgeguckt, die in der Stadt und einem guten Teil von Texas das Sagen hatten und sich auf verschiedenen Regierungsebenen in Führungsrollen drängten. In der Stadt gingen Gerüchte um,dass das dem Clann nur durch Zauberei gelingen könne, ausgerechnet. Was völliger Schwachsinn war. Die machtgeilen Methoden des Clanns hatten so gar nichts Zauberhaftes an sich. Das wusste ich nur zu gut. Von den „magischen“ Späßen ihrer Kinder hatte ich in der Schule schon mehr als genug mitbekommen. Nach dem Abschluss würden sie sich aus dem Staub machen.
Während Nanna vor dem Hauptgebäude hielt, schlürfte ich schnell einen Schluck Tee und handelte mir zu allem anderen auch noch eine verbrannte Zunge ein.
„Nimm das lieber mit.“ Nanna deutete mit dem Kopf auf den Thermobecher. „Der Tee müsste schnell wirken, aber vielleicht brauchst du später noch mehr.“
„Ist gut. Ach, und vergiss nicht, heute ist ein A-Tag. In der letzten Stunde habe ich Algebra, also …“
„Also hole ich dich auf dem vorderen Parkplatz vor der Cafeteria ab. Ich weiß, ich weiß. Ich bin alt, nicht senil. Dass sich die A- und die B-Tage abwechseln, kann ich mir gerade noch merken.“ Ihre blitzenden grünen Augen verschwanden fast, als ein ironisches Grinsen ihre runden Wangen hob.
An A-Tagen lag der vordere Parkplatz näher an dem Klassenzimmer, in dem der letzte Kurs stattfand.
Weitere Kostenlose Bücher