Herzflimmern
gewesen, ein Kuß von der guten Fee, hatte ihre Mutter gesagt. Aber mit den Jahren hatte es sich vergrößert und bedeckte nun fast ihre ganze Gesichtshälfte vom Ohr bis zum Nasenflügel und vom Unterkiefer bis zum Haaransatz. {27} Die Kinder in der Grundschule waren oft grausam gewesen. »He, Mickey«, sagten sie wohl, »du hast Marmelade im Gesicht.« Oder sie erklärten sie zur Aussätzigen und sagten, niemand dürfe in ihre Nähe kommen. Sie schlossen Wetten ab, wer von ihnen es wagen würde, zu Mickey hin zu laufen und das Feuermal zu berühren. Stanley Furmanski behauptete, sein Vater hätte gesagt, solche Muttermale würden immer größer, bis sie schließlich platzten und das ganze Gehirn herausspritzte. Die Lehrer hielten dann wohl der Klasse einen Vortrag darüber, daß man zu Menschen, die das Schicksal weniger begünstigt hätte als einen selber, besonders nett sein müsse, und Mickey hätte sich vor Scham am liebsten ins nächste Mauseloch verkrochen. Schluchzend pflegte sie nach Hause zu laufen, um sich von ihrer Mutter trösten zu lassen.
In der
High school
wurde es nicht besser. Manche Mädchen freundeten sich nur mit ihr an, um ihr Fragen über ihr Gesicht stellen zu können; wohlmeinende Lehrer demütigten sie mit ihrer übertriebenen Freundlichkeit; die Jungens machten sich an sie heran, weil ihre Freunde ihnen fünf Dollar versprochen hatten, falls sie es über sich brachten, diese entstellte Wange zu küssen.
Ihre Mutter war mit ihr von einem Arzt zum anderen gelaufen. Die meisten stellten fest, das Mal sei zu vaskulös und schickten sie wieder fort; einige experimentierten mit Skalpell und flüssigem Wasserstoff und Trockeneis, ohne daß es den geringsten Erfolg hatte. Ihr Gesicht war nur durch Narben noch mehr entstellt worden.
Aber die schlimmsten Narben trug Mickey nicht im Gesicht. Nach den langen Jahren grausamer Quälerei, die sie von ihrer Umwelt erfahren hatte, war sie nun überzeugt von ihrer eigenen Minderwertigkeit; überzeugt, daß sie einzig dazu bestimmt sei, ganz in der Arbeit aufzugehen, die sie sich wählen würde.
Im ersten Moment hatte sie es gewundert, daß die sechs Prüfer im vergangenen Herbst sie nicht gefragt hatten, warum sie Ärztin werden wollte; sie hatte geglaubt, diese Frage würde man jedem Bewerber stellen. Dann aber hatte sie sich überlegt, daß sie ihr wahrscheinlich nur ins Gesicht hatten sehen müssen, um den Grund zu erraten. Sie waren schließlich Ärzte. Sie konnten sich gewiß vorstellen, wie viele Ärzte Mickey in den vergangenen Jahren aufgesucht hatte. Immer wieder die fremden kalten Hände in ihrem Gesicht; immer wieder das bedauernde Kopfschütteln. Viel zu oft hatte sie die niederschmetternden Worte ›Keine Hoffnung‹ gehört. Jedem, der sie genauer ansah, mußte offenkundig sein, daß Mickey irgendwann beschlossen hatte, einen Beruf zu {28} ergreifen, der es ihr ermöglichen würde, Menschen zu helfen, die so geschlagen waren wie sie selbst, auch wenn es für sie selber zu spät war.
Sie fuhr zusammen, als es draußen klopfte, und öffnete hastig die Tür. Sondra stand vor ihr, das lächelnde Gesicht von Kerzenschimmer erleuchtet.
»Entschuldige, daß ich so lang gebraucht habe«, sagte Mickey. »Das kommt bestimmt nicht wieder vor.«
»Ach, das macht nichts. Ich wollte dir nur sagen, daß unser Festessen auf dem Tisch steht.«
Ruth hatte Käse und Kräcker hingestellt und goß Cola in die Pappbecher.
»Ich muß mich mit dem Zeug zurückhalten«, sagte sie, während die beiden anderen sich im flackernden Kerzenlicht an den Tisch setzten. »Bei mir schlägt alles gleich an. Als ich klein war, hat mir mein Vater jedesmal, wenn er mich mit einem Cola erwischt hat, fünf Cents vom Taschengeld abgezogen. Und als ich in der siebten Klasse war, hat er mir zehn Dollar ausgesetzt, falls ich es schaffen sollte, zehn Pfund abzunehmen.«
»Wenn wir am Wochenende einkaufen«, meinte Sondra und stopfte sich einen Kräcker in den Mund, »besorgen wir uns einen Haufen Diätgetränke und Mineralwasser. Was haltet ihr davon, wenn wir abwechselnd kochen? Jeder immer eine Woche lang.«
Beide sahen Mickey an, doch die schwieg.
»Hör mal, Mickey«, sagte Ruth, während sie sich ein paar Krümel von ihrem T-Shirt streifte, »du mußt ein bißchen kontaktfreudiger werden, wenn du Ärztin werden willst. Wie willst du denn mit deinen Patienten reden, wenn du immer so still bist?«
Mickey hüstelte ein wenig und senkte den Kopf.
»Ich will keine Praxis.
Weitere Kostenlose Bücher