Hetzer & Kruse 01 - SchattenHaut
über der Tür, Tannenzweige in Vasen, Kugeln im Fenster und Kerzen auf dem Adventskranz. Es duftete anders zu dieser Zeit, es fühlte sich auch anders an. Irgendwie weicher und ruhiger.
Susi hatte die ersten Tage der Weihnachtsferien damit verbracht, Winnetou II zu lesen.
Andere in ihrer Klasse waren noch nicht so weit, dass sie Bücher lesen konnten. Susi hatte sich das Lesen schon vorher selbst beigebracht. Das war im Grunde ganz einfach gewesen.
Sie wusste nicht, wieso die Erwachsenen so ein Geheimnis daraus machten.
In den Winnetou-Büchern war Susi völlig aufgegangen. Da war sie selbst zum Indianer geworden, hatte jedes Pferd im Griff und beherrschte die Kunst der Rauchzeichen. Im Sommer war sie nie anders anzutreffen als mit Köcher und Federschmuck. Pfeil und Bogen hatte sie sich selbst geschnitzt. Ein Stück Angelschnur hatte sie von Thomas bekommen. Die Prärie rund ums Haus und der angrenzende Wald gehörten ihr.
Sie war ganz gespannt auf die Bescherung. Schließlich hatte sie sich wichtige Dinge gewünscht. Reitstunden, eine Angel und natürlich Winnetou III. Den wollte sie bis zum Ende der Ferien durchgelesen haben. Darum zögerte sie auch nicht einen Moment, als Mutter nach ihr rief. Sie stürmte ins Wohnzimmer, in dem der Weihnachtsbaum stand. Eine Riesentanne von über drei Metern. Über und über mit Äpfeln, Nüssen, Kugeln und Kerzen geschmückt. Sie rannte auch zum Fenster, weil sie wusste, dass Mutter dachte, sie glaube noch an den Weihnachtsmann.
„Ach, schade Mama, er ist schon weg!“
„Da kann man nichts machen“, sagte Mama mit einer Spur Bedauern in der Stimme. „Na, dann lass uns mal die Geschenke auspacken.“
Susi rannte zu den Päckchen unter dem Baum. Wie herrlich, alles bunte Schachteln mit Schleifen – eine schöner als die andere.
„Dies hier ist für dich!“, sagte Mama und strahlte.
Susi zog die Schleife auf, wickelte den Gegenstand aus dem Papier und erstarrte. „Hanni und Nanni sind immer dagegen“ von Enid Blyton. Das war nicht ganz das, was sie sich gewünscht hatte.
„Freust du dich?“, fragte Mutter, und sie brachte es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen.
„Ganz toll, Mama, wirklich.“
„Und hier kommt das Hauptgeschenk!“, erklärte Vater mit Stolz in der Stimme.
Es war nur ganz klein, eigentlich mehr ein Briefumschlag. Ah, dachte sie, das muss der Gutschein für die Reitstunden sein, den sie sich so gewünscht hatte. Eilig riss sie das Geschenkpapier ab und öffnete die Karte: Ballettstunden, zweimal wöchentlich.
Welche Schmach. Was sollte das? Kannten die eigenen Eltern sie so wenig? Zu nichts anderem war sie weniger geeignet. Sie konnte auf Bäume klettern, Dämme bauen. Notfalls konnte sie einen Regenwurm essen – aber Ballett?
Kleine Tränen rannen ihr die Wangen herunter.
„Sieh nur, Otto!“, rief Mutter, „Susi ist ganz überwältigt. Wir haben alles richtig gemacht. Jetzt wird aus unserem Mädchen eine feine Dame.“
Mit Mühe packte Susi ihr Tütü aus und ihre ersten Ballettschuhe. Sie weinte immer noch.
„Na, na, so beruhige dich doch wieder“, sagte Vater ganz gerührt.
Für Susi war eine Welt zusammengebrochen. Ein Teil ihrer unbeschwerten Kindheit endete in dem Moment, als sie – ihrem Stand gemäß – in die richtige Richtung geleitet werden sollte. Mit Liebe zwar, aber auch mit der Unwissenheit blinder Eltern, die ihre Kinder zu dem machen wollen, was sie selbst für sich nie gehabt hatten.
Bennos Verschwinden
Kurz nachdem sich Peter und Wolf an ihren Schreibtischen niedergelassen und den ersten Kaffee getrunken hatten – für Wolf war es der zweite – klingelte das Telefon.
Der bekannte Politiker Benno Kuhlmann sei verschwunden, teilte ihnen Mensching mit. Sie sollten sich sofort auf den Weg machen.
„Den Kaffee wird man doch wohl noch austrinken dürfen!“, grummelte Peter.
„Davon taucht er auch nicht sofort wieder auf, wenn wir uns die Zungen verbrennen oder ihn kalt werden lassen.“
„Ich koche dir später neuen. Jetzt nimm noch einen Schluck und dann komm. Wir wollen Frau Kuhlmann nicht warten lassen. Sie ist bestimmt unruhig und ängstlich. Heute Morgen stand schon in der Schaumburger Zeitung, dass gestern ein Toter an der Weser gefunden worden ist.“
„Ja und? Ihr Mann ist doch erst heute Nacht verschwunden, wenn ich den Chef richtig verstanden habe. Das kann er dann ja wohl nicht gewesen sein.“
„Nein, aber sie könnte in der Angst leben, es könne ihrem Mann ähnlich
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