Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Morgen zur Arbeit gegangen war, ins Gebüsch vor eine Zaunlücke. Mit leeren Händen ging ich am späten Vormittag auf die Straße hinaus. Meine Schwiegermutter hängte Wäsche auf und sah mir nicht an, was ich vorhatte. Ich sagte kein Wort, nahm den Rucksack durch den Zaun und ging zum Bahnhof. Ich fuhr ins Gebirge und hielt mich an eine Absolventengruppe des Konservatoriums. Wir stolperten jeden Tag, bis es dunkel wurde, von einem Gletschersee zum nächsten. An jedem Ufer standen die Holzkreuze mit dem Todestag der Ertrunkenen zwischen den Steinbrocken. Friedhöfe unterm Wasser und Kreuze rundherum als Warnungen vor gefährlichen Tagen. Als wären die runden Seen hungrig, bräuchten jedes Jahr an den Tagen, die auf den Kreuzen stehen, Fleisch. Nach Toten tauchte hier niemand, das Wasser schnitt mit einem Griff das Leben ab, man kühlte gleich aus. Die Absolventen sangen, obwohl der See sie im Stehen mit dem Kopf nach unten spiegelte, um zu prüfen, ob sie gute Leichen wären. Beim Gehen, Rasten und Essen sangen sie im Chor. Mich hätte nicht gewundert, wenn sie beim Schlafen nachts mehrstimmig gesungen hätten wie auf den nacktesten Höhen, wo einem der Himmel in den Mund blies. Ich mußte mich an die Gruppe halten, weil der Tod keinen Wanderer, der sich allein verirrt, zurückgibt. Von den Seen wurden die Augen täglich größer, sie griffen längst in die Wangen, ich sah es in jedem Gesicht, und jeden Tag kürzer wurden die Beine. Und doch wollte ich mir am letzten Tag etwas mit nach Hause nehmen und griff in all dem Geröll nach einem Stein, der einem Kinderfuß ähnelte. Die Absolventen suchten sich kleine, flache Steine für die Hand, Kummersteine. Ihre Handsteine glichen Mantelknöpfen, von denen hatte ich in der Konfektionsfabrik täglich mehr als genug. Aber die Absolventen glaubten damals an Kummersteine, wie ich heute an Nüsse glaube.
Ich kann es nicht ändern: Ich hab die grüne Bluse, die noch wächst, angezogen und klopf zweimal mit dem Stein, in der Küche wackelt das Geschirr, dann ist die Nuß offen. Und während ich sie esse, kommt Paul, vom Klopfen aufgeschreckt, im Pyjama und trinkt ein oder zwei Glas Wasser, wenn er wie gestern stockbesoffen war, zwei. Ich muß die Wörter nicht einzeln verstehen, ich weiß auch so, was er beim Wassertrinken sagt:
Du glaubst doch nicht wirklich, daß die Nuß etwas nützt. Natürlich glaub ich es nicht wirklich, wie ich an alle Sachen, die ich mir angewöhnt habe, nicht wirklich glaube. Umso sturer bin ich.
Laß mich doch glauben, was ich will.
Dem fügt Paul nichts mehr hinzu, weil wir beide wissen, daß man vor dem Verhör den Kopf frei haben und nicht streiten soll. Die meisten Verhöre sind trotz der Nuß quälend lang. Nur woher soll ich wissen, daß sie ohne die Nuß nicht schlimmer wären. Paul versteht nicht, daß ich auf die Sachen, die ich mir angewöhnt habe, noch mehr angewiesen bin, wenn er sie geringschätzt mit seinem nassen Mund und leergetrunkenen Glas, bevor er es hinstellt.
Wenn man bestellt wird, gewöhnt man sich Sachen an, die etwas nützen. Wirklich oder nicht, darauf kommt es nicht an. Nicht man, ich habe mir diese Sachen angewöhnt, eine nach der anderen kamen sie angeschlichen.
Paul sagt:
Damit gibst du dich ab.
Stattdessen macht er sich Gedanken über die Fragen, die mich erwarten, wenn ich bestellt bin. Das ist notwendig, meint er, und was ich tue, verrückt. Notwendig wäre es, wenn mich die Fragen, auf die er mich vorbereitet, wirklich erwarten würden. Bisher wurden immer ganz andere gestellt.
Daß die Sachen, die ich mir angewöhnt habe, mir etwas nützen, wär zuviel verlangt. Sie nützen etwas, nicht mir. Etwas, das heißt höchstens dem Leben durch den Tag. Das Glück im Kopf soll man sich davon nicht versprechen. Über das Leben gibt es viel zu sagen. Über das Glück nichts, sonst ist es keines mehr. Nicht einmal das Glück, das man verpaßt hat, verträgt das Reden. Bei den Sachen, die ich mir angewöhnt habe, geht es um die Tage, nicht ums Glück.
Sicher hat Paul recht, die Nuß und die Bluse, die noch wächst, machen nur zusätzlich Angst. Na und, warum soll man sein Glück machen wollen, wenn es einem nur gelingt, seine Angst zu machen. Ich bin ungestört damit beschäftigt und werde nicht so anspruchsvoll wie andere Leute. Und niemand giert nach der Angst, die sich ein anderer macht. Mit dem Glück ist es umgekehrt, daher ist es kein gutes Ziel, für keinen Tag.
Die grüne Bluse, die noch wächst, hat einen
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