Hexen: Vier historische Romane (German Edition)
der aus dem Topf aufsteigende, nach Urin stinkende Dampf. Gerlinde schmunzelte über meine Reaktion: „Das wolltest du nicht mitessen, wie? Deshalb, Tora, immer alles vorher kurz abkochen, dann abgießen, gut mit Wasser abspülen und erst danach garen. Klar?“
„Ja, Meisterin, das ist mir jetzt klar.“
Alles, was sie mir beibrachte, war unerwartet interessant für mich, zumal ich stets den Sinn begriff.
Gerlinde erfreute mein rasches Begreifen und mehr noch mein angeblich sensibles Verständnis für Pflanzen. Deshalb hatte sie mich dann vom Frühjahr an zur morgendlichen Ernte im Küchengarten gerne an ihrer Seite, denn ihrer Ansicht nach erkannte ich genauer als sie, welches Gewächs in voller Kraft stand, also erntereif war. Somit war ich ihr nun bereits eine kleine Hilfe, und das richtete mein Halt suchendes Selbstbewusstsein ein wenig in die Höhe. Es gab also doch etwas, zu dem ich nutze war.
„N ie hätte ich gedacht, dass einfache Küchenarbeiten solchen Spaß bereiten“, ereiferte ich mich eines Abends bei meiner Lieblingsschwester Palmatia, die sich heute zur blauen Stunde die Zeit genommen hatte, sich zu mir auf eine Gartenbank zu setzen.
„Nicht einfache Küchenarbeiten“, korrigierte sie mich, „du lernst bei Gerlinde Heilkochen, ein gravierender Unterschied, Tora. Gerlinde hält dich für talentiert, weshalb ich dir empfehle, bei ihr eine offizielle Ausbildung zur Heilköchin anzutreten.“
„Nein - ich, ich weiß nicht, Schwester Palmatia.“
„Du weißt nicht? Dann werde ich dir mit einer kurzen Aufklärung nachhelfen.“
Sie lehnte sich zurück, und ihr Blick verlor sich im Abendhimmel, als sie begann: „Nach Beendigung meines Medizinstudiums habe ich auf der Binger Klosterschule Gerlinde kennen gelernt, die bereits Heilköchin war. Zur Vervollständigung unserer Berufe studierten wir dort noch ein Jahr Arzneikunde. Anschließend folgten wir den Spuren eines großen Gelehrten bis in ein schwäbisches Dorf, wo er eine Arztpraxis samt Apotheke führte. Er nahm uns als Assistentinnen auf und vermittelte uns sodann einen tiefen Einblick in die Naturgesetze, der unser Wissen maßgeblich bereichert hat. Nach achtzehn Monden gehorchte er einem Ruf in die Schweiz, und das ist nun fünfundzwanzig Jahre her. Gerlinde hat es darauf in die hiesige Küche gezogen, und was aus meiner Wenigkeit geworden ist, hast du vor Augen.“
Das hatte ich, und ich vermutete, mit dem soeben Vernommenen eine Erklärung für Palmatias und Gerlindes auffallend hellfarbige Ausstrahlungen gefunden zu haben. Einen Moment lang gab ich mich diesem Gedanken noch hin, dann griff ich unser Thema wieder auf: „Mir selbst fehlt ja jede Unterscheidungsmöglichkeit, doch nach der Reaktion unserer durchreisenden Gäste muss Gerlinde eine Kochkünstlerin sein.“
Darauf lachte Palmatia amüsiert und erklärte mir dann: „Kein Wunder, Tora, denn viele Menschen stellen sich unter Heilkost Kräuter- und Wiesensalate, fades Gemüse oder dünne Süppchen vor, jaja. Aber Gerlindes Gerichte munden nicht nur köstlich, sie sind vor allem von höchstem Nährwert, und in dieser Kombination liegt ihr eigentliches Können. Damit hat sie mich bei unseren Mitbewohnern als Ärztin fast überflüssig gemacht, denn kränkelt hier mal jemand, so erhält er oder sie von Gerlinde die reinsten Arzneigerichte, die meist schnell zur Genesung führen. Auch du hast ihr viel zu verdanken. - Na, habe ich dein Interesse am Heilkochen damit erweckt?“
„Hast du, und wie.“
Darauf stieß sie mich neckend mit der Schulter an: „Wie rasch du dich immer begeisterst. Rührt von deiner großen Neugier her, wie? Doch ich muss dich darauf hinweisen, dass zu diesem Beruf fundierte Arzneikenntnisse gehören, die du dir später auf unserer Apothekerhochschule erwerben müsstest.“
„Nein“, entfuhr es mir erschreckt, „ich und studieren, mit meinem närrischen Verstand. Du weißt ja nicht, welche Streiche er mir immer wieder spielt.“
„Geduld, Tora, er lernt schon noch Gehorsam. Lass dich zunächst nur offiziell von Gerlinde ausbilden, dagegen hat die Äbtissin gewiss nichts einzuwenden, zumal ja all dein übriger Unterricht bis Pfingsten abgeschlossen sein wird.“
Nun drehte sie sich mir voll zu und sprach mit leiser und dadurch umso eindringlicherer Stimme: „Hör mir jetzt aufmerksam zu, Tora, und vergiss nie, was ich dir jetzt sage. Du hast eine auffallend große und hungrige Seele. Noch ermangelt es ihr zwar an Reife, doch die wird sie zweifellos mit
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