Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
hoffnungsvoll und jetzt ganz gewiss in höchster Gefahr. Wo seid ihr? Gebt uns ein Lebenszeichen! Wer hat unsere kleinen Lieblinge zuletzt gesehen? Bitte, rettet sie, um Himmels Willen, rettet sie!
Dann zogen sie die Verunsicherungskarte: Eine Tirade über die ganz offensichtlich untätige, entweder völlig unfähige oder hoffnungslos überlastete Polizei, die lieber Jagd auf Verkehrssünder mache, statt nach den vermissten Mädchen zu suchen. Und im selben Atemzug über eine Polizei, die nicht bereit sei, irgendwelche Auskünfte über den Stand der Ermittlungen zu geben, weshalb man wohl die berechtigte Frage stellen müsse, was die Polizei zu verbergen habe, welche Fahndungsfehler, welche entsetzliche Details, welche möglicherweise persönliche Verstrickungen von Polizeibeamten in den Fall, welche Vertuschungsversuche, welchen erschütternden Skandal? Und ob man als Bürger und Steuerzahler denn überhaupt noch solch einer Polizei die Sicherheit und Ordnung im Staat mit gutem Gewissen anvertrauen könne? Es war zum Kotzen. Wagner hätte am liebsten auf die Zeitung gespieen, als er das las. Jedoch es ging noch ein Stück tiefer: Jetzt knallten sie die absolute Trumpfkarte auf den Tisch. Die Angstkarte.
Sie gingen nach der bewährten Methode von Zeitungsschreibern vor, die überhaupt nicht das Geringste über konkrete Fakten zu berichten haben, aber trotzdem so tun wollen, als wären sie einem sensationellen Kriminalfall auf der Spur – sie plünderten einfach die Archive des Schreckens und listeten fein säuberlich alle so genannten Jahrhundertverbrechen auf, die von perversen Tätern an jungen Frauen und Kindern begangen worden waren. Das ganzeBestiarium von Marc Dutroux bis Josef Fritzl, einen Katalog der Grausamkeiten, in dem nichts ausgelassen wurde, keine Kindesentführung und kein schalldichtes Kellerverlies, keine Serienvergewaltigung, keine Folter, kein jahrelanger Inzest, kein Mord. Die Zeitungsseiten waren geradezu getränkt mit dem Angstschweiß der Opfer, mit Tränen, Blut und Sperma. Gewürzt mit der durchschnittlichen Dunkelziffer von jährlichen Missbrauchsfällen und der Zahl der nicht aufgeklärten Sexualdelikte und spurlos verschwundenen Jugendlichen.
Doch dann, wohl um ganz sicher zu gehen, bei Tausenden von Lesern die Angst zu schüren, auch in ihrer unmittelbaren Umgebung könnten hinter jeder Ecke die Vergewaltiger, Kinderschänder und Mädchenmörder lauern, setzten die Panikjournalisten noch eins drauf: den Fall Karl M., der vor über fünfzehn Jahren als „Frankenstein vom Gartenweg“ für Aufregung in der Stadt gesorgt hatte.
Dass sich damals alle Anschuldigungen gegen den Mann als reine Hirngespinste erwiesen hatten, die der überdrehten Phantasie von Kindern entsprungen waren, wurde natürlich geflissentlich verschwiegen. Man brachte zwar keinerlei Details, aber allein dadurch, dass man diese alte Geschichte mit ein paar vagen Andeutungen aus der Versenkung zerrte, weckte man den Verdacht, die beiden vermissten Mädchen könnten Opfer einer Sexbestie geworden sein.
Wagner war empört. Er hatte damals in der Sache Karl M. selbst die Ermittlungen durchgeführt und kannte die Wahrheit. Und was er da jetzt in der Zeitung lesen musste, war Verleumdungsjournalismus der übelsten Sorte. Ein bisschen Hexenjagd gefällig? Aber gern, wenn’s zum allgemeinen Horrortainment beiträgt. Genau genommen war das ein Fall für den Staatsanwalt. Doch auch eine Verurteilung und eine offizielle Gegendarstellung würden nichts mehr nützen. War ein Gerücht erst einmal in die Welt gesetzt, war es durch nichts mehr aufzuhalten.
In der Dienststelle ist jetzt vermutlich der Teufel los, dachte Wagner. Bestimmt läuten seit in der Früh ununterbrochen die Telefone, und ständig sind Leute dran, die angeblich irgendwas Verdächtiges gesehen oder gehört haben. Und wie üblich würde an keinem dieser Hinweise was dran sein. Die Kollegen taten ihm Leid. Nur gut, dass sie geschult darin waren, sich von der Hysterie nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie waren ein starkes, gut eingespieltes Team, und besonders Cerny, der Dienststellenleiter, hatte sich schon mehr als einmal in Krisensituationen als ruhender Pol bewiesen. Trotzdem waren jetzt gute Nerven gefragt, bis sich die Aufregung wieder legen würde.
Einen Augenblick dachte Wagner daran, seinen Urlaub abzubrechen und in die Polizeiinspektion zu fahren. Aber nein, das war die Sache nicht wert. Die Kollegen wussten schon, was zu tun war. Die Fahndung
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