Hexer-Edition 01: Die Spur des Hexers
Bruder?«, fragte Necron hämisch. »Kommen dir Bedenken? Oder tut es dir vielleicht jetzt leid, dich gegen mich gestellt zu haben? Noch ist es nicht zu spät.« Er lachte leise. »Ein Wort, und ich lasse dich frei. Diene mir, statt mich zu bekämpfen, und wer weiß, vielleicht siehst du eines Tages sogar deinen Sohn -«
Andaras Bewegung kam so warnungslos, dass Necron nicht einmal Zeit zu einem überraschten Schrei fand. Seine gefesselten Hände trafen Necrons Gesicht mit aller Kraft, die er aufbringen konnte.
Necron taumelte, kämpfte mit haltlos wirbelnden Armen um sein Gleichgewicht und prallte schwer gegen die gegenüberliegende Stollenwand.
Im gleichen Moment fühlte Andara sich herumgerissen und mit brutaler Kraft zu Boden geschleudert. Er sah einen Schatten, riss instinktiv die Hände vor das Gesicht und schrie vor Schmerz, als sich Michaels Stiefelspitze in seine Seite bohrte.
»Aufhören!«
Necrons Stimme hallte in der Enge des Schachtes wider wie ein Peitschenhieb. Der Fuß des jungen Hünen, schon zu einem zweiten, noch härteren und diesmal auf Andaras Gesicht gezielten Tritt gehoben, erstarrte mitten in der Bewegung.
»Lass … ihn«, sagte Necron stockend. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine, hob stöhnend die Hand an die Lippen und betrachtete mit gerunzelter Stirn das Blut, das plötzlich an seinen Fingerspitzen klebte. Dann richtete er sich ganz auf, starrte einen Moment lang hasserfüllt auf Andara herab und machte eine befehlende Geste, aufzustehen.
»Lass ihn«, sagte er noch einmal, als Michael sich bücken wollte, um ihn grob in die Höhe zu reißen. »Soll er mich schlagen. Dieser Hieb war der letzte, den er geführt hat. Er wird dafür bezahlen.« Er lachte meckernd. »O ja, Bruder, bitter bezahlen.«
»Was ist mit Robert?«, fauchte Andara. Aller Schmerz und jede Angst war aus ihm gewichen. Necron wusste, wo Bob war! Er wusste es! »Wo ist er?«, schrie er. »Du weißt es! Sage es! Wo ist Bob? Was habt ihr mit ihm gemacht?«
Michael hob drohend die Faust, als Andara auf Necron zutrat, als wolle er sich erneut auf ihn werfen, aber Necron machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
»Gemacht?«, fragte er kichernd. »Nichts, mein Freund. Jedenfalls noch nichts.«
»Wo ist er?«, beharrte Andara. »Wo habt ihr ihn hingebracht? Was habt ihr mit ihm vor?«
»Nicht dasselbe wie mit dir, Roderick«, antwortete Necron kalt. »Du wirst sterben, in ein paar Minuten. Aber vielleicht hilft es dir, wenn du weißt, dass dein Sohn weiterleben wird.«
»Wo ist er?«, fragte Andara noch einmal.
»Aber das weißt du doch«, antwortete Necron kalt. »Hat dein guter Freund H.P. es dir nicht gesagt?« Er lachte, und als er weitersprach, waren sein Blick und seine Stimme vollends zu denen eines Wahnsinnigen geworden.
»Dein Sohn ist hier, Roderick. Aber bald, schon wenn die Sonne untergeht, wird er auf den Weg gebracht.«
»Wohin?«, fragte Andara, obwohl er die Antwort ganz genau wusste. Aber er hatte Angst davor. Angst wie noch niemals zuvor im Leben.
»Nach R’Lyeh«, antwortete Necron lächelnd. »Der Stadt, über die er einst herrschen wird.«
Es war ein Bild wie aus einem Alptraum, nur dass es kein Traum, sondern die Wirklichkeit war, und dass, wenn es überhaupt ein Erwachen gab, dieses nicht mehr in dieser Welt stattfinden würde.
Die Grotte war größer, als er sie seit seinem ersten Hiersein in Erinnerung hatte: ein gewaltiger, aus Sandstein und schwarzem Fels gewachsener Dom, dessen Decke und Wände sich in ungewisses Halbdunkel zurückgezogen hatten wie erschreckte finstere Tiere.
Sie waren alle gekommen – die Männer und Frauen aus Innsmouth, die Kinder, Necrons Handlanger, dazu eine erschreckend hohe Anzahl Andara unbekannter Gesichter, die wohl aus Arkham oder den umliegenden Ortschaften stammen mussten. Die schwarze Seuche griff um sich.
Andara schätzte die Zahl der Anwesenden auf hundert, vielleicht mehr. Viele von ihnen trugen Fackeln oder kleine rußende Öllampen, so dass die Grotte von einem düsterrotem, flackerndem Licht und unangenehmer Wärme erfüllt war. Ein an- und abschwellendes Summen wie von zahllosen murmelnden Stimmen lag in der Luft, obgleich er niemanden sah, der sprach. Von dem Felsen aus, auf den Michael ihn niedergestoßen hatte, konnte er das Wasser nicht sehen. Aber er wusste, dass es da war, und er spürte, dass hinter der Wand aus Menschen und Fackeln mehr wartete als schwarzes eisiges Wasser.
Trotzdem hatte er keine Angst.
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