Bis zum letzten Atemzug
HOLLY
Ich befinde mich in dem angenehmen Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen. Dank der Morphiumpumpe empfinde ich keine Schmerzen, und beinahe kann ich glauben, dass die Muskeln, Sehnen und Hautschichten meines linken Armes sich selber zusammengeflickt haben, sodass meine Haut wieder weich und hell aussieht. Meine lockigen braunen Haare fallen mir wieder weich über den Rücken, meine Lieblingsohrringe baumeln an meinen Ohren, und ich kann beim Gedanken an meine Kinder beide Mundwinkel ohne Schmerzen zu einem breiten Lächeln verziehen. Ja, Medikamente sind etwas Wunderbares. Das Problem ist nur, die sorgfältig verschriebenen und mir von den Krankenschwestern verabreichten Betäubungsmittel lassen die Ecken und Kanten meines Albtraums zwar nicht mehr so scharf und schroff erscheinen, doch ich weiß trotzdem, dass dieses benommene, angenehme Gefühl bald verschwinden wird und ich mit Schmerzen und dem Wissen zurückbleibe, dass Augie und P. J. tausend Meilen von mir entfernt sind. Sie sind an den Ort geschickt worden, an dem ich aufgewachsen bin, in die Stadt, der ich geschworen habe, nie wieder zu ihr zurückzukehren, in das Haus, in das ich keinen Fuß mehr setzen wollte, zu dem Mann, den sie nie kennenlernen sollten.
Die blecherne Melodie des Klingeltons, den Augie, meine dreizehnjährige Tochter, in meinem Handy eingestellt hat, zieht mich aus dem Schlaf. Ich öffne ein Auge, das, welches nicht dick mit Salbe bedeckt und verkrustet ist, und rufe nach meiner Mutter, die irgendwann das Zimmer verlassen haben muss. Ich strecke meine Hand nach dem Telefon aus, das auf dem Tischchen neben meinem Bett liegt, und die Nervenenden in meinem bandagierten linken Arm protestieren vehement gegen die Bewegung. Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht, um das Telefon mit meiner unversehrten Hand zu nehmen, und drücke es an mein übrig gebliebenes Ohr.
»Hallo.« Das Wort kommt halb ausgesprochen heraus, atemlos und rau, als wären meine Lungen immer noch mit Rauch gefüllt.
»Mom?« Augies Stimme klingt zittrig, unsicher. Gar nicht wie meine Tochter. Augie ist selbstbewusst, klug, ein Mädchen, das Verantwortung übernimmt und sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen lässt.
»Augie? Was ist los?« Ich versuche, gegen die Benommenheit anzublinzeln, die das Morphium in mir verursacht. Meine Zunge ist trocken und klebt an meinem Gaumen. Ich würde gerne einen Schluck Wasser aus dem Glas trinken, das auf dem Nachttisch steht, aber meine funktionierende Hand hält das Telefon. Die andere liegt nutzlos an meiner Seite. »Geht es dir gut? Wo bist du?«
Ein paar Sekunden herrscht Schweigen, dann sagt Augie: »Ich liebe dich, Mom.« Ihr Flüstern endet in einem leisen Schluchzen.
Mit einem Mal bin ich hellwach und setze mich im Bett auf. Schmerz schießt durch meinen bandagierten Arm, meinen Hals hinauf und bis in mein Gesicht. »Augie, was ist los?«
»Ich bin in der Schule.« Sie weint, so wie sie es tut, wenn sie sich größte Mühe gibt, es nicht zu tun. Ich sehe sie förmlich vor mir, den Kopf gesenkt, ihr langes braunes Haar fällt ihr übers Gesicht, ihre Lider sind zusammengepresst, sie ist fest entschlossen, die Tränen vom Fallen abzuhalten. Ihr Atem füllt mein Ohr mit kurzen, hohlen Zügen. »Er hat eine Pistole. Er hat P. J., und er hat eine Pistole.«
»Wer hat P. J.?« Panik schnürt mir die Kehle zu. »Erzähl es mir, Augie. Wo bist du? Wer hat eine Pistole?«
»Ich bin in einem Schrank. Er hat mich in einen Schrank gesperrt.«
In meinem Kopf dreht sich alles. Wer könnte so etwas tun? Wer könnte meinen Kindern so etwas antun? »Leg auf«, sage ich zu ihr. »Leg auf und rufe sofort die Polizei an, Augie. Dann ruf mich zurück. Schaffst du das?« Ich höre ihr Schluchzen. »Augie«, sage ich etwas schärfer. »Schaffst du das?«
»Ja«, sagt sie endlich. »Ich liebe dich, Mom«, sagt sie leise.
»Ich liebe dich auch.« Meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich spüre, wie sich die Flüssigkeit unter dem Verband sammelt, der mein verletztes Auge bedeckt.
Während ich darauf warte, dass Augie auflegt, höre ich drei Schüsse schnell hintereinander, denen zwei weitere folgen, und Augies durchdringenden Schrei.
Ich spüre, wie der Verband, der die linke Seite meines Gesichts bedeckt, sich lockert, wie mein eigener Schrei die Klebestreifen löst, die ihn an Ort und Stelle halten. Ich spüre, wie die zarte, frisch transplantierte Haut sich auflöst. Ich bin mir nur am Rande bewusst, dass die
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