Hi, Society
KAPITEL 1
E
rlich gesagt weiß ich überhaupt nicht, wie es so weit kommen konnte. Ich meine, ich bin in Paris, trage Chanel und sollte der allerglücklichste Mensch auf der Welt sein, aber stattdessen schrumpft mein Selbstvertrauen proportional zum Anstieg meines Minderwertigkeitsgefühls und die Liste der Dinge, die ich schleunigst an mir ändern muss, wird immer länger, während ich mich durch eine erschreckend makellose Menge an Modejournalistinnen wurstle, vorbei an einer Traube in schwarzen Anzügen steckender Amerikaner, vermutlich die Inhaber der großen Departement Stores, und direkt in eine atemberaubende Duftwolke eintauche, welche von den gelifteten Bouclé-Kundinnen des Modehauses zu mir herüberweht.
Seit ich das in einem Meer von weißen Kamelienblüten versinkende Grand Palais betreten habe, weiß ich mit Sicherheit, dass zweifelsfrei gar nichts an mir passt. Meine Lippen sind viel zu schmal, meine Beine viel zu kurz und meine Haare sehen aus, als würde ich für eines dieser Vorher-Fotos der Life&Style in der Rubrik ›Star für einen Tag‹ posieren. So viel zu der Wirksamkeit dieses sündhaft teuren Superseidenglanz-Shampoos. Vor lauter Baucheinziehen ist mir schon total schlecht und wenn ich nicht bald meinen Platz entdecke, finden sich meine High Heels genau da wieder, wo meine High Hopes schon vor Stunden gelandet sind, nämlich am französischen Boden der traurigen Tatsachen. Genau da, wo auch meine andere Liste liegt, die mit all den Dingen, die ich nicht wusste. Ich meine, seit wann trägt man eigentlich wieder den Nude Look, Riemchensandalen mit bunten Socken und was, bitte, ist auszusetzen an betonten Augen? Also ich habe es geahnt, aber nun muss ich es am eigenen Leib erfahren: Traue niemals Marie Claire.
Von wegen Smokey Eyes sind heiß.
Und dafür habe ich auch noch bezahlt, dass ich jetzt aussehe, als hätte ich ein handfestes Drogenproblem, während all die superschlanken Modelwesen, die um mich herum schweben, in ihren zauberhaft pastelligen Seidenchiffonhängerchen mit gesundem Pfirsichteint erstrahlen und mir abwertend-mitleidige Blicke zuschicken. Der einzige Grund, warum ich nicht schon längst kehrtgemacht habe, ist die niederschmetternde Aussicht, den ganzen Weg bis zum Ausgang in meinen höllischen High Heels zurücklegen zu müssen, obwohl ich mir sicher bin, dass mir wohl jeden Moment jemand eine Visitenkarte der nächsten Entzugsklinik zusteckt. Wenn ich könnte, würde ich mich ja auf der Stelle unsichtbar machen wie die bezaubernde Jeannie – oder noch besser im Boden versinken. Ich bin ja so was von down to date und fehl am Platz.
Apropos Platz.
Wo ist er denn, mein Platz?
Ich schiebe mich schon die längste Zeit durch das einschüchternd aufgeregte Durcheinander an klingelnden Mobiltelefonen, blitzenden Kameras, superschicken Promis, PR- und Presseleuten, und mein Sitzplatz bleibt ebenso verschwunden wie mein Selbstbewusstsein. Das hat man davon, wenn man die beste Freundin um einen Gefallen bittet. Ist ja wieder typisch Sophie. Hauptsache ihr schwuler Model-Agent Pierre sitzt bereits gemütlich-legal auf seinem kunstvoll verzierten venezianischen Eisenstuhl, während ich gestresst-illegal als hochstapelnder Fashion Editor der australischen Vogue stumme Stoßgebete gegen Himmel richte, dass Miss High-Fashion-Magazin nicht im letzten Moment ihre Pläne ändert und ihrem Secret Lover Clemence, mit dem sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt à la Coco Chanel in den luxuriösen Laken des Ritz vergnügen soll, nicht doch die Show vorzieht und sich damit mein Sitzplatz in der Front Row in Luft auflöst.
Und dabei habe ich all meinen Charme und die wenigen Reste meines Schulfranzösisch-Wortschatzes eingesetzt, damit wir diesen Anprobetermin morgen überhaupt bekommen haben, und ich hoffe inständig, dass Sophie dieses Mal ihr Schimpfwörter-Vokabular samt ihrer selbstgezeichneten Schuhentwürfe zu Hause lässt. Denn bald gehen mir in puncto Schuhdesigner die Adressen und in puncto Sophie ehrlich gesagt die Nerven aus. Dabei sind es nur noch zwei Monate bis zur Trauung. Monsieur Masaro ist sozusagen unsere letzte Möglichkeit. Seit Jahrzehnten stammt jeder Entwurf an der Opera Garnier aus seiner Feder und spätestens seit ihn die großen Pariser Haute-Couture-Häuser exklusiv mit ihren Kollektionen betrauen, denen er das kunstvolle Schuhwerk hinzufügt, werden die Wartelisten für Stilettos aus seiner Hand immer länger und die Preise immer unerschwinglicher, was
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