Hide (German Edition)
Trägerhemd und Shorts, deshalb zog ich mir schnell noch eine Jacke über und Stiefel an, bevor ich ihm nachrannte.
Dicke Schneeflocken fielen vom dunklen Himmel. Es herrschte gespenstische Stille, der Schnee hatte sich wie eine Decke absoluter Geräuschlosigkeit über die Welt gelegt, sodass jeder einzelne meiner Schritte im Wald nachzuhallen schien.
»Wo gehst du hin?«, rief Sam hinter Nick her.
»Aus«, sagte Nick, ohne stehen zu bleiben.
»Nick, warte.« Ich hatte die beiden eingeholt. »Lass uns wieder reingehen und dann reden wir. Bitte.«
»Reden?« Er warf mir einen verärgerten Blick zu, die Stirn in Falten. »Genau da liegt das Problem, Anna. Du willst immer nur reden.«
»Vielleicht, weil du es nie willst.« Mir klapperten die Zähne, weil ich so fror, was jedoch nicht verhinderte, dass sich ein scharfer Unterton in meine Stimme schlich. »Wir sind jetzt seit zwei Monaten zusammen unterwegs und trotzdem weiß ich eigentlich nichts über dich. Außer, dass du ein ziemlicher Idiot und …«
Mit ein paar schnellen Schritten stürmte er auf mich zu und blieb erst stehen, als sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war. »Na, schön. Reden wir. Womit willst du anfangen? Wie wär’s damit, dass ich nicht mehr unterscheiden kann, was wahr und was falsch ist? Damit, dass ich mittlerweile so scheißviele Flashbacks habe, dass ich kurz davor bin, den Verstand zu verlieren?« Er machte eine kurze Pause, um Luft zu holen. »Oder sollen wir lieber darüber reden, wie oft diese Flashbacks mit Toten aufhören? Leuten, die ich umgebracht habe? Du hast doch keinen blassen Schimmer, auf was für Missionen die Sektion uns geschickt hat. Und das willst du auch gar nicht wissen.«
Sam zwängte sich zwischen uns. »Nick«, sagte er beschwichtigend. »Sie will doch nur helfen.«
Nick löste den Blick nicht von mir, während er Sam antwortete. »Ich brauche ihre Hilfe nicht. Ich brauche keinen von euch.«
Er drehte sich um und marschierte davon. »Scheiße, Mann. Ich brauche Abstand.«
»Wie viel?«, fragte Sam vorsichtig. »Einen Kilometer? Eine Stadt? Einen Staat?«
Nick rammte sich die Hände in die Hosentaschen. »So viel ich kriegen kann.«
Ich schielte zu Sam.
»Lassen wir ihn jetzt gehen? Einfach so?«, fragte ich leise.
Sam nickte. »Wenn er Abstand braucht, geben wir ihm Abstand. Ist nicht gerade so, als könnten wir ihn da irgendwie umstimmen.«
Sam ging wieder ins Haus. Doch ich blieb stehen, wo ich war. Mit zitternden Beinen und tauben Fingern wartete ich auf den Augenblick, in dem ich Nick nicht mehr sehen konnte.
Er verschwand hinter der Kurve der Zufahrtsstraße, restlos von der Dunkelheit und dem heftig fallenden Schnee verschluckt.
* * *
Als ich zurück ins Haus kam, hatte Sam wieder seinen Wachposten im Wohnzimmer bezogen. Ich ging nach oben. Die Decke eng um die Schultern gezogen, lag ich im Bett und das Haus in völliger Stille, weshalb ich hoffte, schnell einzuschlafen, damit ich nicht über Nick nachdenken musste.
Doch schon in dem Moment, in dem ich die Augen schloss und mich entspannt ins Kissen sinken ließ, füllten Stimmen meinen Kopf. Weißes Licht strahlte mir gleißend vor den Lidern.
Ich wusste sofort, was das war: ein Flashback.
Da war Geschrei.
Eine rosafarbene Decke unter mir.
Ein geöffnetes Schmuckkästchen auf der Kommode.
Ein Junge neben mir auf dem Bett.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Mir fielen die Haare ins Gesicht und ich rieb mir die Augen. Ich weinte. Und ich wollte nicht, dass er mich so sah, heulend wie ein Baby.
Er kam ein Stück näher. »Anna?«
»Worüber streiten die?«, fragte ich.
»Sam ist wütend über etwas, das deine Schwester gemacht hat, und deine Schwester ist eine …« Er unterbrach sich selbst, ich spürte, dass er mich betrachtete. Er holte tief Luft. »Auch egal.« Er räusperte sich. »Soll ich dir was zeigen? Etwas, das mir meine Mutter beigebracht hat?«
Ich schniefte, wischte mir das Gesicht trocken. »Was denn?«
»Hast du ein Blatt Papier? Dann zeig ich’s dir.«
Die Stimmen wurden leiser. Ich kramte in den Schreibtischschubladen nach einem Blatt, fand ein schönes rotes mit Herzchen drauf. Ich hielt es ihm hin und er stöhnte übertrieben.
»Was ist?«, fragte ich.
Er wuschelte mir durchs Haar. »Nichts. Du bist einfach ein Mädchen durch und durch.«
»Anna?« Finger bohrten sich mir in die Schultern und schüttelten mich. »He, wach auf.«
Ich öffnete die Augen. Sam war über mich gebeugt,
Weitere Kostenlose Bücher