Die Einsamkeit des Langstreckenläufers. Erzählung.
I
Sobald ich ins Borstal kam, machten sie mich zum Langstreckengeländeläufer. Sie dachten vermutlich, ich sei dazu gerade richtig gebaut, denn ich war hager und lang für mein Alter (und bin immer noch so), und jedenfalls hatte ich nicht viel dagegen, wenn ich ehrlich sein soll, denn Laufen ist bei uns zu Hause immer groß geschrieben worden, besonders das Weglaufen vor der Polizei. Ich bin schon immer ein guter Läufer gewesen, mit einem langen Schritt und auch schnell, das einzige Dumme war nur, egal wie schnell ich gerannt bin - und ich hatte einen ziemlichen Zahn drauf, das muß ich selber zugeben -, es hat mich nicht gebremst, mich nach dem Ding in der Bäckerei von den Bullen kriegen zu lassen.
Es könnte euch ein bißchen komisch vorkommen, daß sie in
Borstal Langstreckengeländeläufer haben, weil ihr vielleicht denkt, das erste, was ein Langstreckengeländeläufer macht, wenn sie ihn raus auf die Felder und in die Wälder lassen, ist abhauen, so weit, wie er mit dem Borstal-Fraß im Bauch nur kommt - aber da habt ihr euch geschnitten, und ich will euch auch verraten, wieso. Erstens sind die Drecksäcke, die über uns stehn, nicht so blöd, wie sie die meiste Zeit aussehn, und dann bin ich auch nicht so blöd, wie ich aussähe, wenn ich beim Langstreckenlauf versuchen würde abzuhauen, denn durchbrennen und sich wieder schnappen lassen, auf das Spiel fallen nur Dumme rein. Schlau muß man sein im Leben, und selbst die Schlauheit muß man ganz gerissen anbringen; ich sage euch klipp und klar: Die sind schlau, und ich bin schlau. Wenn die und wir dieselben Ideen hätten, kämen wir glänzend miteinander aus, aber die stimmen nicht mit uns überein, und wir stimmen nicht mit ihnen überein, so ist es nun mal, und so wird's auch immer bleiben. Eins steht fest: Wir sind alle schlau, und deshalb können wir einander nicht leiden. Daher kommt's, daß die wissen, ich werde nicht versuchen, von ihnen wegzukommen; Die sitzen wie die Spinnen in dem bröckeligen Herrenhaus, hocken wie aufgescheuchte Dohlen auf dem Dach und spähen über die Wege und Felder wie deutsche Generale vom Turm ihrer Tanks. Und selbst wenn ich hinterm Wald weitertrabe und sie mich nicht mehr sehn können, wissen sie doch, daß mein Bürstenschnitt binnen einer Stunde hinter der Hecke langgetanzt kommt und daß ich mich bei dem Kerl am Tor melde. Denn wenn ich an einem naßkalten, frostigen Morgen um fünf aufsteh und mir auf dem Steinfußboden bald einen abzittere, wo die andern alle noch eine Stunde pennen können, bis es läutet, und runterschleiche durch die ganzen Korridore zur großen Eingangstür, den Läuferpassierschein in der Faust, da fühl ich mich nämlich wie der erste und zugleich der letzte Mensch auf der Welt, falls ihr eine Vorstellung habt, was ich damit meine. Ich fühle mich wie der erste Mensch, weil ich kaum einen Faden am Leibe habe und in ärmellosem Hemd und kurzer Hose auf die frostigen Felder rausgeschickt werde, wo sogar der erste arme Schlucker, der mitten im Winter auf die Erde geschneit kam, sich aus Blättern einen Anzug gemacht und der Flugeidechse die Haut abgezogen hat für einen Überrock. Aber da steh ich nun, steif und starr und mit nichts, das mich warm machen kann, außer einem zweistündigen Langstreckenlauf vor dem Frühstück, nicht mal mit einem Stück Brot mit Hammelfett. Die trainieren mich ganz hübsch für das große Sportfest, wo all die sülzfratzigen rotnäsigen Herzöge und feinen Damen ankommen - die nicht mal zwei und zwei zusammenzählen können und bei denen es wie bei Schwachmatikern ziemlich durcheinander gehn würde, wenn sie keine Hauskulis hätten, denen sie nur winken oder klingeln brauchen -, und die halten uns dann Reden darüber, daß der Sport genau das Richtige ist, was uns dahin bringt, ein ehrenhaftes Leben zu führen, und was unsere juckenden Fingerspitzen von den Ladenschlössern und Sicherheitsanlagen und Haarklemmen fernhält, mit denen man das Geld aus dem Gaszähler holen kann. Ein Stück blaues Band und einen Pokal geben sie uns als Preis, nachdem wir uns beim Rennen und Springen abgestrampelt haben wie die Rennpferde, bloß daß wir nicht so gut behandelt werden wie Rennpferde, das ist das einzige.
Also da steh ich nun in ärmellosem Hemd und kurzer Hose am Tor, nicht mal eine trockene Kruste im Bauch und vor mir frostige Blumen am Boden. Wahrscheinlich denkt ihr, da muß mir ja zum Heulen sein? Wohl kaum. Daß ich mich wie der erste Mensch auf der
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