Himmel über London
war zwanzig Minuten vor zwölf. Notar Prendergast klopfte an sein Glas, zog eine schwarze Mappe aus der Aktentasche und erhob sich.
»Meine Damen und Herren. Wie bereits angekündigt, werde ich nun das Testament verlesen, das der Jubilar Leonard Vermin selbst verfasst hat und das von zwei unparteiischen Personen eidesstattlich bezeugt wurde. Es ist nicht üblich, ein Testament bereits vor dem Tode des Erblassers zu verlesen, aber es ist in keiner Weise ungesetzlich. Außerdem wird Leonard, wie er bereits mitgeteilt hat, verschieden sein in …«
Er machte eine kurze Pause und schaute auf seine Armbanduhr.
»… in ungefähr einer halben Stunde. Der Drink, den er vor wenigen Minuten im Beisein aller zu sich genommen hat, enthielt nämlich das starke Gift Penophenosyrin, das innerhalb von zwei Stunden unvermeidlich zu Herzstillstand und zum Tode führt. In Leonards Fall sollte es, wenn man seinen Allgemeinzustand bedenkt, schneller gehen. Es ist hinzuzufügen, dass es sich um einen durch und durch schmerzlosen Prozess handelt; das Gift hat sich bereits jetzt in seinem Blutkreislauf verteilt, und es gibt keine Gegenmittel. Um jedes Missverständnis im Vorhinein auszuräumen, möchte ich darauf hinweisen, dass es in den anderen Drinks kein Gift gab, nur in dem von Leonard Vermin …«
»Aber meine Güte, Leonard …«, rief Maud aus. »Was um alles in der Welt hast du gemacht?«
Leonard wedelte irritiert mit der Hand. Prendergast räusperte sich erneut und fuhr fort.
»Ich möchte Sie außerdem darüber informieren – bevor ich mit der Testamentseröffnung beginne –, dass ich Vorsitzender in einem Londoner Verein bin, der für die Legalisierung aktiver Sterbehilfe eintritt. Es ist meine allgemein bekannte Auffassung und die des Vereins, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, selbst über sein Leben und seinen Tod zu bestimmen. Wenn mein Freund Leonard Vermin gezwungen würde, weitere drei, sechs oder zwölf Monate zu leben, würde das eine letzte Zeit voller Qualen und in Unwürde bedeuten, nichts sonst. Er hat sich selbst das tödliche Gift verabreicht, und meiner Meinung nach ist alles verdammt nach Recht und Gesetz abgelaufen. Jetzt zum Testament. Der Grund, dass ich es vorlese und nicht er selbst, liegt darin, dass Penophenosyrin einschläfernd wirkt, bevor es zum Tode führt, und möglicherweise wird er sich nicht die ganze Zeit über wach halten können. Hm.«
Er öffnete die Mappe, klemmte sich ein Monokel vor sein gesundes Auge und trank einen Schluck Wasser. Dann ließ er seinen Blick über die Versammelten wandern, aber niemand schien einen Kommentar abgeben zu wollen. Leonards Gesichtsfarbe war im Schein der Kerzen ins Graugrüne gewechselt, aber nachdem er den irritierenden Einwurf von Maud weggewischt hatte, saß er jetzt zurückgelehnt auf seinem Stuhl, mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen, die Hände vor dem Bauch gefaltet, und etwas, was vielleicht als amüsiertes Aufblitzen interpretiert werden konnte, in den immer noch offenen Augen.
»Das ist mein letzter Wille und mein Testament«, begann Prendergast, nachdem Oberkellner Barolli beflissentlich wieder ein Spotlight eingeschaltet hatte. »Es hat lange Zeit in Anspruch genommen, zu ihm zu gelangen, aber ich habe all meine Anstrengung hineingelegt, um es so gerecht zu machen, wie es nur möglich ist. Jeder soll das bekommen, was er oder sie verdient hat, diese einfache Regel war meine Richtschnur.«
Er machte erneut eine kurze Pause und trank einen Schluck, dieses Mal aus dem Glas mit Portwein, das zum Käse serviert worden war.
»Mein Leben war ein schwieriger Segeltörn um viele Untiefen und Klippen. Es ist ganz und gar nicht so verlaufen, wie ich es mir gewünscht hätte, das Einzige, was mir wirklich erfolgreich gelungen ist: Ich habe ein ansehnliches Vermögen ansammeln können, obwohl ich eigentlich nie danach gestrebt habe. Vor meinem Tode habe ich alle meine Wertpapiere verkauft, es hat mehrere Monate gedauert, aber es hat geklappt. Eine Woche, bevor dieses Testament aufgesetzt wurde, betrug mein gesamtes Vermögen mehr oder weniger um die 49 Millionen Euro, und das ist also die Summe, die ich jetzt unter meinen Hinterbliebenen verteilen möchte.
Aber ein Problem dabei war, dass ich fast mein gesamtes Leben lang geglaubt habe, ich hätte keine Nachkommen, keine Erben von meinem Fleisch und Blut, doch das war ein Irrtum. Vor knapp einem Jahr erfuhr ich, dass ich einen Sohn in New York habe. Sein Name ist Milos Skrupka, und
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