Himmelstiefe
ich ihn das letzte Mal. Ich wusste, dass ich ihn in ein bodenloses Loch reißen würde, sobald er erfuhr, dass ich ertrunken und verschollen war. Aber was sollte ich anderes tun? Ich hatte keine Wahl.“
Ich schluckte. Mir wurde klar, was Tim für Ängste in den letzten Stunden durchgestanden hatte. Was für ein Wunder, dass er mir gerade gesund und unversehrt gegenüber saß. Es war kaum zu glauben.
„Wie um alles in der Welt hast du es geschafft?“, rief ich und versuchte mir irgendeine Auflösung vorzustellen, aber ich hatte nicht die geringste Idee.
„Minchin hatte mich nicht angelogen. Sie hat ihr Wort gehalten. Aber der Reihe nach. Gegen Abend machten wir uns also auf den Weg. Minchin trug einen langen Mantel über ihrem Undinen-Gewand, in dem sie ziemlich durchscheinend und wenig menschlich wirkte. Sie sprach kein Wort mit mir, während wir mit der Straßenbahn zu den Hackeschen Höfen fuhren und von dort Richtung Friedrichsbrücke liefen. Ich starrte auf das träge dahinfließende Wasser der Spree, während wir unter dem Brückenbogen warteten, dass kein Mensch in der Nähe war. Schwer vorstellbar, dass sich unter der schwarzen Oberfläche des Flusses ein leuchtendes, lagunengrünes Gewässer verbergen sollte. Es war zu verrückt. Aber es war so. Ich tauchte in tiefes Schwarz, aber statt irgendwann den Grund der Spree zu spüren, ging das Schwarz langsam in ein tiefblaues und dann grünes Glitzern über …“
Was Tim dann berichtete, ließ mir den Atem stocken. Ja, es gab eine Möglichkeit, eine Undine vom Herzen eines Menschen zu lösen und Minchin hatte darum gebeten. Das war es, worüber das Volk der Undinen im Gewölbe der riesigen Wurzel gerade abstimmte, als ich dazugekommen und dann gleich wieder geflüchtet war.
Um einen Menschen, dessen Liebe sie nicht erringen konnte, am Leben zu lassen, ohne selbst zu sterben, musste sie sich ihr Herz herausreißen und gegen das fremde Herz einer verstorbenen Undine eintauschen lassen. Minchin war entschlossen, diese Operation auf sich zu nehmen, damit Tim, der ihr Volk gerettet hatte, wieder frei war und ihr Volk ihr verzieh. Und die Undinen hatten abgestimmt und ihrer Entscheidung nachgegeben. Ich spürte an meinem ganzen Körper Gänsehaut. Ich rückte nahe an Tim heran und legte meine Arme um seinen Hals. Er zog mich eng an sich. Einige Augenblicke saßen wir schweigend da. Ich war so froh und konnte es kaum glauben, dass es nichts mehr gab, was zwischen mir und Tim stand. Gleichzeitig war ich erschüttert, was Minchin auf sich nahm, trotz all ihrer Vergehen.
„Wann ist diese Operation?“, flüsterte ich.
„ Sie haben vor einigen Stunden begonnen. Ich denke, inzwischen ...“
„Wie hoch sind ihre Chancen, zu überleben?“
„Normal hoch, so wie bei den Menschen.“
Ich empfand Respekt vor Minchin, die bereit war, für ihre Fehler so einen großen Preis zu bezahlen. Niemals hätte ich ihr das zugetraut. Tim gab sich einen Ruck und stand auf und zog mich mit hoch. Er lächelte mich an und strich mir einige Locken aus der Stirn, als könnte er damit auch all meine Nachdenklichkeit fortwischen.
„Und jetzt lass uns hinaus gehen. Draußen ist es so herrlich sonnig und warm. Ein Luxus-Ort, den du dir zum Studieren ausgesucht hast!“, versuchte er die schwere Stimmung zu vertreiben.
Ich probierte ihn anzulächeln.
„Sie schafft es“, sagte er.
„Ja“, antwortete ich.
Hand in Hand gingen wir nach Draußen. Dort saß Neve auf der Steinbank in der Sonne. Ich hockte mich vor sie und legte meine Hände auf ihre.
„Entschuldige bitte, wegen vorhin. Es ist immer dasselbe mit mir: Ich muss endlich aufhören, daran zu zweifeln, dass du mein Glücksengel bist und immer das Richtige tust.“
„Immer das Richtige, das tue ich bestimmt nicht.“
Neve lächelte mich an mit ihrer kindlich reinen Unschuldsmiene. Sie war zum verlieben. Hoffentlich verstand der Kerl das, den sie sich da ausgesucht hatte. Sie erhob sich.
„Wir müssen zum Rat. Sie wissen bereits, dass wieder ein Mensch eingedrungen ist.“
Neve machte ein ernstes Gesicht, aber ich sorgte mich nicht. Die schwierigen Zeiten waren vorbei. Ich wusste es einfach.
Epilog
Wie ein Pfeil schieße ich dicht unter der Wasseroberfläche dahin. Das Wasser über mir breitet sich aus wie eine glitzernde Decke. Ich sehe die Strahlen der Sonne wie aus einer anderen Welt. Ich fühle mich wunderbar. Ich bin so leicht. Ich bin frei. Im Augenwinkel nehme ich einen Schatten wahr, der
Weitere Kostenlose Bücher