Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Muslima mit einem Gesichtsschleier, einem niqab , wie es heute so viele gibt. Ich sah einen Farbschimmer unter dem langen schwarzen Gewand, und einen Moment lang glaubte ich, in der heißen Luft ein Flirren zu sehen, während die Schatten der im Wind wehenden Bäume verrückte Muster auf das staubige Wasser kritzelten.
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent –
Die Frau schaute von der Brücke zu mir herunter. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur die schwarz umrandeten Augen unter dem niqab . Eine Sekunde lang schien sie mich zu mustern – kannte ich sie von irgendwoher? Ich hob die Hand und winkte ihr zu. Zwischen uns die Seine und der Schokoladengeruch, der aus dem offenen Küchenfenster drang.
Probier mich. Versuch mich. Fast erwartete ich, sie würde meinen Gruß erwidern. Aber sie senkte den Blick und wandte sich ab. Dann war sie am Ende der Brücke angelangt und verschwand im Wind des Ramadan, eine Frau ohne Gesicht, ganz in Schwarz gekleidet.
3
Freitag, 13. August
Einen Brief aus dem Totenreich erhält man nicht oft. Es war ein Brief aus Lansquenet-sous-Tannes, genauer gesagt ein Brief in einem Brief, der in unserem Postfach lag (auf einem Hausboot bekommt man die Post ja nicht zugestellt), wo Roux ihn fand, weil er jeden Tag dort vorbeischaut, wenn er Brot holen geht.
»Es ist nur ein Brief«, sagte er mit einem Achselzucken. »Muss nicht unbedingt etwas bedeuten.«
Aber den ganzen Tag und die ganze Nacht hatte der Wind geweht, und wir misstrauen dem Wind. Schon immer. Es waren richtige Böen, aus dauernd wechselnden Richtungen. Der Wind malte wilde kleine Satzzeichen in die stille Seine. Rosette war zappelig, übte Hüpfen am Flussufer und spielte mit Bam am Wasser. Bam ist Rosettes unsichtbarer Freund, der allerdings nicht immer unsichtbar ist. Jedenfalls nicht für uns. Und an Tagen wie diesem können auch manche Kunden ihn sehen. Sie sehen ihn, wie er von der Brücke aus alles beobachtet oder am Schwanz von einem Baum herabhängt. Rosette sieht ihn selbstverständlich die ganze Zeit – aber sie ist ja auch anders als die anderen.
»Es ist nur ein Brief«, wiederholte Roux. »Warum machst du ihn nicht einfach auf und siehst nach?«
Ich war dabei, die letzten Trüffel zu rollen, bevor ich sie alle in Schachteln packte. Es ist ja schon schwierig genug, die Schokolade auf der richtigen Temperatur zu halten, und in einer Schiffsküche hat man wenig Platz, also konzentriert man sich am besten auf die elementaren Dinge. Trüffel gehen ganz leicht, und dadurch, dass man sie in Kakaopulver rollt, bekommt die Schokolade garantiert keinen weißlichen Belag. Ich lagere sie unter der Arbeitsplatte, neben den Kästen mit dem alten, rostigen Werkzeug – Schraubenschlüssel und Zangen, Muttern und Krimskrams –, und die Trüffel sehen so echt aus, dass man schwören könnte, sie seien real und nicht aus Schokolade.
»Es ist acht Jahre her, dass wir von dort weggegangen sind«, sagte ich und ließ eine Trüffel über meine Handfläche rollen. »Von wem ist der Brief überhaupt? Ich kenne die Handschrift gar nicht.«
Roux öffnete den Umschlag. Er tut immer das Nächstliegende, ist immer ganz im Hier und Jetzt, Spekulationen sind ihm fremd.
»Er ist von Luc Clairmont.«
»Vom kleinen Luc?« Ich sah ihn vor mir: einen unbeholfenen Teenager, der oft wie gelähmt war, weil er stotterte. Und dann erschrak ich, weil mir schlagartig bewusst wurde, dass Luc inzwischen ja längst ein junger Mann war. Roux faltete das Blatt auseinander und begann zu lesen:
Liebe Vianne, liebe Anouk,
es ist schon so lang her. Ich hoffe, Ihr erhaltet diesen Brief. Ihr wisst ja, dass meine Großmutter mir alles vererbt hat, als sie gestorben ist, das Haus, ihr ganzes Geld und außerdem einen Umschlag, den ich aber nicht vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag öffnen sollte. Dieser Geburtstag war im April, und in dem Umschlag habe ich den Brief hier gefunden. Er ist an Dich adressiert, Vianne.
Roux las nicht weiter. Ich schaute ihn an. Er hielt einen Umschlag hoch, einen schlichten weißen Umschlag, etwas zerknittert nach all den Jahren und mit Spuren lebendiger Hände auf dem toten Papier. Und da stand in schwarzblauer Tinte mein Name, geschrieben von Armande – arthritisch, herrisch, exakt.
»Armande«, sagte ich.
Meine liebe alte Freundin. Wie seltsam, wie traurig, jetzt von dir zu hören. Und den Umschlag zu öffnen, ein Siegel aufzubrechen, das schon brüchig geworden ist, einen Umschlag, den du abgeleckt haben
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