Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
sich der alte Mahjoubi auf die Gebete vor. Die Spitze des Minaretts schwebt in der Sonne. In einem Gässchen von Les Marauds kauern François und Karine Acheron mit Maya vor einem Karton mit zwei süßen Welpen. Du’a sitzt am Ufer und schaut in den Tannes. Sie trägt keine abaya mehr, sondern Jeans, einen kamiz und rote Slipper. Alyssa Mahjoubi leistet ihr Gesellschaft, ihre kurzen Haare sind nicht bedeckt, und ihre Augen sind voller Tränen.
Wohin ich auch blicke, überall finde ich etwas, was mich mit Lansquenet verbindet. Geschichten, Menschen, Erinnerungen, ungreifbar wie Hitzeflimmern, und doch gibt es ein Echo, einen Widerhall, als könnten die Saiten aus Licht eine Melodie spielen, die mich schließlich nach Hause führen wird. Die Chocolaterie ist fertig. Komisch – aber ich schiebe es vor mir her, das Ergebnis anzusehen. Vielleicht sollte ich das Haus lieber so in Erinnerung behalten, wie es vor drei Wochen war: eine schwarze Ruine, leer und verlassen. Andererseits konnte ich mich noch nie besonders gut von etwas trennen. Ich habe es versucht, aber ich habe immer Bruchstücke von mir selbst zurückgelassen, wie Samen, die darauf warten zu keimen.
Ich überlasse Joséphine und Roux ihren Vorbereitungen für die abendlichen Festlichkeiten und gehe zur Place Saint-Jérôme, wo das letzte Licht des Sommers zu Grau verblasst. Ja, der Pralinenladen sieht aus wie an dem Tag, an dem ich von hier weggegangen bin. Blumentöpfe auf dem Fensterbrett, die Läden geranienrot gestrichen, alles weiß getüncht, hell und neu, als würde er jemanden erwarten.
Jemanden wie dich –
Der Ruf des Muezzins weht aus Les Marauds herüber. Gleichzeitig schlägt die Kirchturmuhr die halbe Stunde. Jeannot Drou ist nach Hause gegangen, Anouk steht an der Straßenecke, und Pantoufles Schatten zu ihren Füßen wirkt wie ein Wegweiser, der unsere Straße markiert.
Über mir höre ich ein leises Quietschen. Es ist das Holzschild oberhalb der Ladentür, das mit einer Klammer an der Wand befestigt wurde. Eine leise, aber hartnäckige Stimme, wie ein zirpendes Vögelchen:
Probier mich. Versuch mich. Koste mich.
Ich blicke hoch. Noch steht nichts auf dem Schild, es wartet darauf, beschriftet zu werden. Ich sehe es fast schon vor mir, rote und gelbe Buchstaben, als wäre alles, was in den vergangenen acht Jahren geschehen ist, hübsch sauber zusammengefaltet worden, ohne Ecken und Kanten, ohne Leerstellen, nur glasiert im Glanz der wiedergefundenen Zeit.
Bleibst du, Vianne? Bleibst du hier?
Anouk und Rosette schauen mich an. Sie haben beide hier Freunde gefunden. Sie sind beide ein Teil dieses Dorfes geworden, so wie wir ein Teil von Paris sind. Gebunden durch hundert unsichtbare Fäden, die zerrissen werden müssen, wenn wir weggehen.
Ich strecke die Hand aus, um die Tür zu berühren. Auch sie ist jetzt geranienrot gestrichen. Meine Lieblingsfarbe. Roux, der das Streichen übernommen hat, muss das gewusst haben. Und ist da nicht ein Leuchten, das golden den Türrahmen umschwebt, ein wunderbar süßer Glanz? Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Bam mich beobachtet. Seit wir hier in Lansquenet sind, ist er verblüffend sichtbar. Für Pantoufle gilt das heute ebenfalls. Seine ernsten Augen blinzeln mir aus dem Schatten zu.
Ich probiere, ob die Tür verschlossen ist. Aber wie alle anderen Türen hier ist sie es nicht. Ich öffne sie einen Spaltbreit. Drinnen, im Dunkeln – ist das ein Blitz aus Eisvogelblau? Ein Gekrakel aus quirligem Orange? Meine Kinder lernen, sage ich mir, mit einem seltsamen Stolz im Herzen. Sie wissen, wie man den Wind ruft. Aber reicht das aus? Ist es je genug?
Auf der anderen Seite des Flusses, in Les Marauds, bereitet Roux sich vor. Ich erkenne die Zeichen. Der ferne Blick in seinen Augen, der auf andere Orte verweist. Roux würde niemals in einem Haus leben. Selbst ein Hausboot bedeutet eine Einschränkung. Und Lansquenet ist wirklich sehr klein, Roux. Die Leute sind klein. Die Gemüter sind klein. Letztlich bist du mit mir mitgekommen, weil du gedacht hast: Sie geht hier nie weg.
Leise schließe ich die Tür. Über meinem Kopf ruft der unsichtbare Vogel mit seiner leisen, hartnäckigen Stimme: Probier mich. Probier mich.
Ich nehme meine Kinder an der Hand. Anouk ergreift die eine Hand, Rosette die andere. Der Ruf des Muezzins verstummt. Die Sonne ist untergegangen. Wir blicken nicht zurück. Wir gehen jetzt auf ein großes Fest.
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Dank
Wieder einmal gilt mein herzlichster Dank den
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