Himmlische Wunder
Tagen kann ich es fast spüren, dieses schreckliche Wissen, das in ihrem Inneren rumort, wie ein Tier in einem Käfig. Anouk, mein Sommerkind, das mich früher unmöglich anlügen konnte, so wenig wie sie vergessen hätte zu lächeln. Anouk, die mir früher in aller Öffentlichkeit das Gesicht abküsste und laut zwitscherte: Ich hab dich so lieb! Anouk, meine kleine Fremde, die mir jetzt noch fremder ist, mit ihren Launen und ihren seltsamen Anfällen von Schweigsamkeit, mit ihren extravaganten Geschichten und ihrer Art, mich manchmal mit zusammengekniffenen Augen zu mustern, als würde sie versuchen, in der Luft hinter meinem Kopf etwas Halbvergessenes zu erkennen.
Ich musste natürlich ihren Namen ändern. Ich heiße jetzt Yanne Charbonneau, und sie heißt Annie. Aber für mich bleibt sie Anouk. Es sind ja nicht die Namen an sich, die mir Sorgen machen. Wir haben sie schon so oft geändert. Aber etwas anderes ist uns entglitten, ist verschwunden. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich weiß, dass es mir fehlt.
Sie wird erwachsen, sage ich mir. Sie entfernt sich von mir, wie ein Kind, das man in einem Spiegelsaal erspäht. Anouk mit neun, immer noch mehr Sonnenschein als Schatten, Anouk mit sieben, Anouk mit sechs, wie sie in ihren gelben Gummistiefeln wie eine Ente durch die Gegend watschelt, und Pantoufle hüpft verschwommen hinter ihr her. Anouk mit Zuckerwatte in der kleinen rosaroten Faust – alle diese Anouks sind fort, weit weg, sie reihen sich ein hinter den zukünftigen Anouks: Anouk mit dreizehn, die anfängt, sich für Jungs zu interessieren, Anouk mit vierzehn, Anouk, unvorstellbar, mit zwanzig, wie sie schneller, immer schneller neuen Ufern entgegenstrebt.
Ich wüsste gern, an wie viel sie sich erinnert. Vier Jahre sind für ein Kind eine lange Zeit, und sie redet nicht mehr über Lansquenet oder über Magie oder, was noch schlimmer wäre, über Les Laveuses, obwohl ihr manchmal etwas herausrutscht, ein Name, eine Erinnerung, was mir mehr mitteilt, als sie ahnt.
Ich habe hoffentlich ganze Arbeit geleistet, gründlich genug, umdas Tier in seinem Käfig zu lassen und um den Wind zu besänftigen und dafür zu sorgen, dass das Dorf an der Loire nichts anderes ist als eine verblasste Postkarte von einer Insel der Träume.
Und so wache ich über die Wahrheit, und die Welt dreht sich weiter, im Guten und wie im Schlechten. Wir behalten unseren Zauber für uns, wir greifen nie ein, nicht einmal einem Freund zuliebe, nicht einmal mit einem Runenzeichen, das als Glücksbringer in den Deckel einer Schachtel geritzt wird.
Es ist ein kleiner Preis, den wir dafür bezahlt haben, dass wir vier Jahre in Ruhe gelassen wurden. Aber manchmal frage ich mich, wie viel wir eigentlich schon abbezahlt haben und wie viel noch nachkommt.
Meine Mutter hat oft eine Geschichte erzählt, eine alte Geschichte, von einem Jungen, der einem Straßenhändler seinen Schatten verkauft, im Tausch gegen das ewige Leben. Sein Wunsch geht in Erfüllung, und der Junge zieht zufrieden weiter, weil er denkt, er hat ein gutes Geschäft gemacht. Denn wozu ist ein Schatten gut? denkt der Junge, warum soll er ihn nicht loswerden?
Doch die Monate vergehen und dann die Jahre, und nach und nach begreift er. Er zieht durch die Lande, und er wirft keinen Schatten, in keinem Spiegel sieht er sein Gesicht; kein Teich, auch wenn die Wasseroberfläche noch so glatt ist, zeigt ihm sein Ebenbild. Er fragt sich, ob er unsichtbar ist, er bleibt zu Hause, wenn die Sonne scheint, er meidet die mondhellen Nächte, er zertrümmert jeden Spiegel in seinem Haus und lässt jedes Fenster von innen mit Jalousien verdunkeln, doch auch das genügt ihm nicht. Seine Liebste verlässt ihn, seine Freunde werden alt und sterben. Und er lebt immer noch im Dämmerlicht, bis zu dem Tag, an dem er in seiner Verzweiflung einen Priester aufsucht und ihm beichtet, was er getan hat.
Und der Priester, der noch jung war, als der Junge seinen Handel geschlossen hat, ist jetzt gelb und zerbrechlich wie ein alter Knochen. Er schüttelt den Kopf und sagt zu dem Jungen: »Das war kein Händler, dem du da auf der Straße begegnet bist. Das war der Teufel, mit dem du ein Geschäft gemacht hast, mein Sohn, undein Geschäft mit dem Teufel endet in der Regel damit, dass jemand seine Seele verliert.«
»Aber es war nur ein Schatten«, protestiert der Junge.
Wieder schüttelt der alte Priester den Kopf. »Ein Mensch, der keinen Schatten wirft, ist nicht wirklich ein Mensch«, sagt
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