HISTORICAL WEIHNACHTEN Band 01
Burg herrschte Frieden und Wohlstand, wohin man nur sah. Es wurde mit jedem randvoll gefüllten Becher deutlich, man hörte es aus jeder Stimme heraus, die erhoben wurde, um zu einer Rede oder einem Lied anzusetzen, wenn der eine Gang beendet war und der nächste auf den übervollen Tischen serviert wurde.
Hier herrschte keine Verzweiflung, keine Sorge wegen der Ernte, des Geldes oder des Gehorsams, wie Joy mit einem gewissen Neid feststellen musste.
Und dennoch benahm sich keiner der Feiernden daneben. Die lauten Stimmen waren nie von Ärger oder Ausschweifungen geprägt, denn Campion gab die Atmosphäre vor, die hier im Saal herrschen sollte. Er war der ruhende, unerschütterliche Mittelpunkt, er strahlte Macht und Stärke in einem Maß aus, zu dem nur wenige Männer auf dem Schlachtfeld in der Lage waren. Joy hatte Männer in hochrangigen Positionen stets als Tyrannen abgetan, doch dieser Earl war ein wahrer Herrscher, der mittels Weisheit regierte und der es nicht nötig hatte, ständig seine Macht zu demonstrieren.
Als sie in die fröhlichen Gesichter ringsum blickte und dann den Mann ansah, dessen Untergebene sie alle waren, verspürte Joy einen Moment lang den Wunsch, selbst ein Teil dieser kleinen Welt zu sein. Sie hatte die de Burghs immer für mächtige Ritter gehalten, doch nun begann sie sich zu fragen, ob sie hier nicht die wahre Familie erlebte, die sich aus allen Untertanen des Earls zusammensetzte, in einem Reich, in dem Ehre und Güte herrschten.
Vielleicht hatte sie aber auch zu viel von dem gewürzten Wein getrunken, oder der Geist der Weihnacht hatte sie über alle Maßen bedacht. Der durchströmte den Saal in einer Weise, dass sie sich vorstellen konnte, wie er das ganze Jahr über von solcher Warmherzigkeit erfüllt war. Doch sie wusste, kein Heim konnte wirklich so idyllisch und harmonisch sein, wie es Campion Castle auf den ersten Blick zu sein schien. Der Besuch hier war wie eine Reise ins Schlaraffenland, aber so angenehm all das auch war, musste ihr kurzer Ausflug hierher doch auch wieder ein Ende nehmen – und das schon bald.
So verlockend die Atmosphäre und so freundlich die Menschen hier auch waren, so schön es war, den Liedern zu lauschen und mit den anderen zu feiern, spürte Joy trotzdem, dass die Zeit drängte und sie aufbrechen mussten. Also lehnte sie sich zu Campion hinüber, der auf dem gleichen erlesenen und mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Stuhl saß, den er ihr am Abend zuvor angeboten hatte. Er hatte ihr
seinen
Stuhl überlassen, ging es ihr durch den Kopf. Sie musste schlucken, da sie ob dieser Geste einen Kloß im Hals verspürte.
„Mylord“, begann sie, aber er unterbrach sie mit einem Lächeln.
„Campion. Sagt doch bitte Campion zu mir.“
„Campion, ich möchte Euch für dieses wundervolle Mahl danken. Jetzt aber müssen wir uns auf den Weg machen“, erklärte sie mit Nachdruck. Anstatt ihre Worte mit einer weiteren Handbewegung abzutun, wie sie es von ihm erwartet hatte, beugte er sich zu ihr herüber. Vermutlich tat er es, um sie wegen des Stimmengewirrs besser verstehen zu können, dabei kam er aber so nahe, dass sie die silbergrauen Strähnen in seinem dunklen Haar ebenso sehen konnte wie die feinen Fältchen, die sich von seinen Augenwinkeln ausgehend über sein sonnengebräuntes Gesicht zogen.
Der Anblick seiner unglaublich schönen Augen versetzte Joy in Erstaunen. Sie waren nicht so dunkel, wie zunächst gedacht, sondern von einem klaren Braun, das in seinen Tiefen eine große Weisheit barg. Joy fühlte sich von diesen Augen angezogen, von dem, was sie dort zu finden vermutete – Mysterien, Wahrheiten, Frieden und etwas Unbekanntes. Ihre Wangen erröteten, und sie wich ruckartig zurück, da sich ein seltsames, beunruhigendes Gefühl in ihr regte.
Campion schien davon nichts zu bemerken. „Mein Heim ist doch hoffentlich nicht so unwirtlich, dass Ihr meine Gastfreundschaft ablehnen wollt, oder?“, fragte er.
Joy konnte nur flach atmen und verlagerte ein wenig ihr Gewicht, während sie versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie hatte es nie gelernt, einen arroganten Mann glauben zu machen, ihr Wille sei scheinbar seine Idee. Tatsächlich war ihr oft genug vorgeworfen worden, für eine Frau untypisch energisch zu sein oder nicht ihren Platz in der Gesellschaft zu kennen – und das waren noch die harmlosesten Anschuldigungen gewesen.
„Nein, Mylord, aber ich habe schon jetzt zu viel Zeit an Eurer hervorragenden Tafel verloren, und
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