HISTORICAL WEIHNACHTEN Band 01
PROLOG
„Sie haben die gesegnete Jungfrau Maria geraubt!“
Die Leibeigenen von Woldingham schauten fassungslos dem Reiter nach, der sein Pferd mit donnernden Hufschlägen in Richtung des winterlichen Waldes galoppieren ließ. In der eisigen Kälte der Nacht verhallten allmählich die Hilferufe der Frau, die sich in seiner Gewalt befand. Dann auf einmal verstreute sich die versammelte Menge – einem Schwarm Stare auf dem Feld gleich – in alle Richtungen. Die meisten zogen sich rasch in ihre einfachen strohgedeckten Häuser zurück und hofften darauf, nicht mit der Katastrophe in Verbindung gebracht zu werden. Die wahrhaft Vorsichtigen scharten ihre Familie um sich und machten sich selbst auf den Weg in die Wälder.
Wer außer den de Graves würde schon ein solches Verbrechen begehen? Und wenn sich der Lord of Woldingham mit seinem alten Erzrivalen stritt, konnte man gar nicht vorsichtig genug sein, wollte man sich vor den Pfeilen und den Schwerthieben in Sicherheit bringen.
Es dauerte nur einige Augenblicke, dann standen der Priester und der Dorfschulze allein auf der vom Mond beschienenen Straße, die hinauf zur Burg führte – abgesehen von einem Esel, den man in der plötzlichen Aufregung zurückgelassen hatte und der mit gesenktem Kopf dastand und wartete. Sogar Josef hatte seinen geborgten Mantel zu Boden fallen lassen und war gegangen.
Die beiden Männer sahen sich in stummem Mitleid an, dann liefen sie in Richtung der nahe gelegenen Burg. Trotz der Festbeleuchtung, die durch schmale Fenster nach außen drang, und trotz des Freudenfeuers auf dem Burghof hob sich das Bauwerk von dem sternenübersäten Himmel wie ein unheilvoller Schemen ab.
Jemand musste Henry de Montelan, Lord of Woldingham, die Nachricht überbringen, dass seine Tochter seinem erbittertsten Feind in die Hände gefallen war.
Und das ausgerechnet zur Weihnachtszeit!
Die Burgtore standen weit offen, da man auf die traditionelle Prozession wartete, die Maria und Josef zur Burg führen sollte, um dort am Heiligen Abend eine Unterkunft zu suchen. Im Gegensatz zur Schilderung in der Bibel, wonach sie überall abgewiesen wurden, wo sie Einlass begehrten, würde sich der Lord of Woldingham von seiner gütigen Seite zeigen und sie in seinen verschwenderisch eingerichteten Gemächern nächtigen lassen.
Das Schauspiel selbst war eine seit Generationen überlieferte Tradition, begründet durch den letzten de Montelan, der zu einem Kreuzzug aufgebrochen war. Zugleich war diese Gepflogenheit eng verbunden mit der Blutfehde zwischen Woldingham und dem nahe gelegenen Mountgrave Castle.
Die zwei Wachleute am Tor musterten die beiden heraneilenden Männer und hielten dann Ausschau nach der Prozession. Im Vorbeilaufen erfuhren sie vom Priester Pater Hubert und vom Dorfschulzen Cob Williamson, was sich Schreckliches zugetragen hatte, und waren sofort in Alarmbereitschaft.
So etwas bedeutete Ärger.
Und das ausgerechnet zur Weihnachtszeit!
Die beiden Männer bahnten sich ihren Weg über den belebten Burghof, riefen den Umstehenden die unerfreuliche Neuigkeit zu, blieben aber nicht stehen, um sorgenvolle Fragen zu beantworten. Ein paar leicht angetrunkene Köche hielten erschrocken in ihrer Arbeit inne, Spanferkel und Ochsen am Spieß über den Flammen zu drehen, während der verschwitzte Bäcker fluchend seine Helfer zu sich rief, damit sie die Brote von den Tischen nahmen und in Körbe packten, um sie so leichter in Sicherheit zu bringen. Schon bald würde es auf dem Burghof von bewaffneten Männern und Pferden wimmeln.
Und das ausgerechnet zur Weihnachtszeit!
Der Lärm der Feier im großen Saal drang ebenso wie der goldene Lichtschein durch die Schießscharten und das erwartungsvoll offen stehende Tor nach draußen. Die beiden Männer mühten sich ab, die Außentreppe zu bewältigen, und oben angekommen, mussten sie erst einmal stehen bleiben, um Luft zu holen. Im Saal sorgten große Feuer dafür, die winterliche Kälte zu vertreiben. Funken stiegen jedes Mal auf, wenn hier und da ein brennendes Scheit verrutschte, und der Rauch dieser Feuer vermischte sich mit dem der Fackeln entlang der Wände.
Überall saßen die vornehmen Damen und Herren von Woldingham und unterhielten sich angeregt mit Gästen, Rittern des Hauses und dem höheren Dienstpersonal. Eine Kinderschar, die von Kleinkindern bis zu Grünschnäbeln reichte, spielte ausgelassen unter den Tischen und rings um die Bänke, wo sie sich mit einer Hundemeute vergnügte.
Allmählich
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