HISTORICAL WEIHNACHTEN Band 01
genügt das, worin ich herkam.“
Die Frau verzog den Mund. „Es tut mir leid, Mylady, aber das wurde schon alles zu den Lumpen geworfen. Es war nichts Außergewöhnliches, außerdem war es voll Erde und Blut.“
Joan sah sich wieder die leuchtenden Stoffe an. Bei manchen Kleidungsstücken wusste sie nicht einmal, was sie darstellten, aber alle waren aus Seide geschneidert und zum großen Teil auf wunderbare Art bestickt. „Könnte ich dann vielleicht etwas Schlichteres bekommen?“
Alle drei Frauen sahen sie erstaunt an. „Für das Fest?“, fragte die erste.
„Das Fest?“ Sie wusste, es war ein völlig verrückter Gedanke, doch für einen Moment stellte sich Joan vor, sie sei das Hauptgericht und werde für ihre Schlachtung fein gemacht.
Anscheinend hatte man ihr die Panik angesehen. „Es ist Weihnachten, Lady Joan, und niemand hier möchte Euch etwas tun. Woldingham ist einverstanden, morgen Lord Gerald unversehrt herzubringen und gegen Euch auszutauschen. Daher können wir heute feiern. In Kürze werden alle im Saal zusammenkommen.“
Morgen.
Welchen Unterschied machte schon ein Tag? Aber genau das war es ja. Sie hatte noch einen Tag Schonfrist, ehe die Axt auf sie herabsausen würde. Warum sollte sie diesen Tag nicht genießen? Und wenn sie schon mit den de Graves feiern würde, dann hielt sie es für richtig, nicht wie eine Bettlerin gekleidet vor sie zu treten.
Sie verließ das Bett und ließ sich ein Hemd überziehen, das aus feinem Leinenstoff bestand, der sich wie Seide anfühlte. Das nachfolgende, bis zum Boden reichende Kleid war tatsächlich aus Seide, einer winterlich warmen Seide, die sich um ihre Füße legte wie ein Meer aus frischer, sahniger Milch und auch die gleiche Farbe hatte.
Dagegen war das Kleid, das sie ihr darüberstreiften, federleicht und fast durchsichtig, so fein war es gewebt. Darin eingestickt waren Blumen in den Farben von Edelsteinen.
Joan sah an sich hinunter und strich über das leuchtende Muster, das die Stickereien vom cremefarbenen Unterkleid wie Sommerblumen vom Schnee abhob. Es war ein so wunderschöner Anblick, dass ihr fast die Tränen kamen.
Einen Moment lang wollte sie diese Stoffe als zu edel für die gewöhnliche Joan of Hawes ablehnen, doch dann griff sie beide Lagen Seide und hielt sie fest. Der nächste Tag war nicht mehr fern, und heute wollte sie in Seide gekleidet feiern und sich den Traum erlauben, dies hier könne tatsächlich für sie bestimmt sein.
Es folgten feine Wollstrümpfe und genau passende, hübsche cremefarbene Lederschuhe. Dann öffnete die etwas dickliche Dienerin Mabelle eine Truhe und holte eine funkelnde Schlange heraus. Der Gürtel aus Gold und Perlen wurde um ihre Hüften gelegt, war aber so lang, dass nach dem Schnüren die Enden noch bis zu ihren Zehen reichten. Ein dünner Schleier bedeckte ihr offen getragenes Haar, festgemacht mit einem Diadem, das genauso elegant war wie der Gürtel. Sie wünschte, sie könnte sich selbst sehen.
War sie – so wie die eigentlich durchschnittlich aussehende Lady Letitia –
vorübergehend in eine bedeutende Lady verwandelt worden? Oder traf ihre Befürchtung zu, und sie wirkte wie eine Kröte inmitten von herrlichen Blumen, so hässlich anzusehen wie eh und je und völlig fehl am Platz?
Sie drückte den Rücken durch. Dies hier war ihre große Chance, wenigstens für ein paar Stunden ein Leben in einer prachtvollen Welt zu erleben, und diese Chance wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Als sie bereit war, begleiteten die Dienstmädchen sie vorbei an einem Kamin in einen prächtigen Saal, in dem es erschreckend laut zuging. Banner hingen von den hohen Deckenbalken herab, dazwischen stiegen Rauchfahnen von den Fackeln, den Kohlenpfannen und einem großen Feuer auf. Es roch nach verschiedenen Parfüms, Gewürzen und köstlichen Speisen. Edel gekleidete Männer und Frauen drängten sich an den Tischen, und Diener standen entlang der Wände und warteten.
Worauf warteten sie?
Etwa auf sie, Joan?
Verlegen suchte sie nach ihrem Platz, bis Mabelle sie sanft, aber bestimmt in Richtung des ausladenden Tisches auf dem Podest zu ihrer Rechten dirigierte.
Lady Letitia saß dort, ebenso eine ältere, noch erhabenere Dame, daneben ein Mann im mittleren Alter: Sir Almar.
Und dann sah sie ihn … Edmund.
Hatte er sich schon von seinen Verletzungen erholt?
Nein, das war nicht Edmund, sondern der Goldene Löwe, der da in dem prunkvollen Stuhl saß, in Karmesinrot gekleidet, mit Armreifen und
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