Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück: Roman (German Edition)
Kapitel 1
Zu einer Zeit, in der die Postleitzahlen in Deutschland noch vierstellig waren und noch niemand ahnte, dass Mobiltelefone Jahre später einmal Handys heißen würden …
Es war erstaunlich warm für Ende Oktober. Der Himmel leuchtete in einem so intensiven dunklen Blau, wie es nur am Ende eines Sommers möglich war, wenn die Sonne besonders tief stand.
Wolfgang Sagmeister kam ordentlich ins Schwitzen, als er langsam einen felsigen Weg am Watzmann nach oben stieg. Er hatte in den letzten Monaten zu viel am Schreibtisch gesessen, um sich auf sein Abitur vorzubereiten. Das rächte sich jetzt. Wolfgang war alleine unterwegs. Nicht weil er ein ungeselliger Mensch war, sondern weil er Zeit brauchte, um nachzudenken. Und wo konnte man das besser tun, als in den Bergen? Gut, vielleicht noch an den Ufern des Meeres. Leider war er selbst noch nie in einem fernen Land gewesen, sondern hatte immer nur davon geträumt. Doch das sollte sich bald ändern.
Wolfgang zog sich langsam an einem Felsen hoch. Die Muskeln in seinen Armen zuckten vor Anstrengung. Doch als er oben angekommen war und sich schwer atmend ins Gras setzte, hatte sich die Mühe mehr als gelohnt. Bei dem Anblick des atemberaubenden Panoramas fühlte er sich völlig frei und losgelöst von allen Vorschriften und Zwängen. Er würde nicht mehr weiter nach oben steigen, sondern hier eine Rast einlegen und dann umkehren. Sonst würde er den Rückweg vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr schaffen.
Er strich die schulterlangen hellbraunen Haare aus dem Gesicht und holte aus seinem Rucksack eine Flasche Wasser und eine Brotzeitdose. Nachdem er sich gestärkt hatte, drehte er sich eine Zigarette, steckte sie an und inhalierte den Rauch tief. Er legte sich zurück, schob den Rucksack unter seinen Kopf und schloss die Augen.
Er dachte an seine Freundin. Sie wusste nicht, dass er hier oben war. Niemand wusste das. Noch nicht mal seine Eltern, die es seit seiner Volljährigkeit ohnehin gewohnt waren, dass ihr Sohn tat, was er wollte. Das war die Freiheit, die für ihn so wichtig war. Die Freiheit, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
Der Aufstieg hatte ihn mehr angestrengt, als er gedacht hatte. Und vielleicht auch die wenigen Stunden Schlaf in den letzten Tagen. Sorgfältig drückte er den Zigarettenstummel aus und beschloss, ein kurzes Nickerchen zu machen.
Flatternde Haare in seinem Gesicht weckten ihn plötzlich auf. Wolfgang schrak hoch. Der Himmel hatte sich zugezogen, und ein frischer Wind war aufgekommen. Fröstelnd holte er seine Jacke aus dem Rucksack und zog sie an. Er hatte wohl viel länger geschlafen, als er vorgehabt hatte. Besorgt blickte er in den immer dunkler werdenden Himmel. Donnergrollen polterte bedrohlich und hallte an den Felsen wider. Der Wind wurde stärker, und die ersten dicken Regentropfen fielen. Wie hatte sich das Wetter nur so schlagartig ändern können? Er musste zusehen, dass er schnellstens ins Tal kam. Ein plötzlicher Wetterumschwung in den Bergen, gerade zu dieser Jahreszeit, konnte lebensbedrohlich sein. Vor allem wenn man so unvorbereitet wie er ohne die nötige Ausrüstung unterwegs war.
Eine Viertelstunde später tobte ein schweres Gewitter. Grelle Blitze zuckten am Himmel, und der Lärm des Donners war ohrenbetäubend. Aus dem Regen war inzwischen eisiger Hagel geworden, der ihm schmerzhaft ins Gesicht peitschte. Wolfgang rutschte auf dem Hagelteppich aus, fiel hin und verletzte sich am Ellenbogen und an den Knien. Mühsam rappelte er sich hoch und humpelte weiter. Der Hagel hatte den Weg fast unbegehbar gemacht. Wolfgang verfluchte das Wetter und sich selbst. Dass er nicht früher zurückgegangen war! Plötzlich entdeckte er einen kleinen Hohlraum unter einem Felsvorsprung, den er als Unterschlupf benutzen konnte. Es war fast eine Höhle. Hier war er einigermaßen vor dem Unwetter geschützt. Der Arm und die Knie taten höllisch weh. Doch wenigstens blutete er nicht. Er versuchte, sich mit klammen Fingern eine Zigarette zu drehen.
»Verdammt! Verdammt!«, rief er, als es ihm nicht gelang. Seine Finger zitterten zu sehr.
Er hoffte, dass das Wetter sich bald beruhigen würde. Nach einer Weile ließ das Gewitter tatsächlich nach, doch der Hagel war in Schnee übergegangen. Jetzt bekam er es wirklich mit der Angst zu tun.
Er dachte wieder an seine Freundin. Vielleicht hätte er nach dem Streit vor zwei Tagen nicht einfach verschwinden sollen. Warum hatte er niemandem erzählt, wo er hinfuhr? Noch nicht mal
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