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Hoellenfeuer

Hoellenfeuer

Titel: Hoellenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
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übernächtigt aus, doch das störte sie nicht. Es war ihr nicht einmal bewusst. Sie ging durch die menschenleeren Korridore des großen Hauses, begab sich in den Westflügel und betrat dann das Treppenhaus.
    Jedes Mal, wenn sie hier entlangkam, war sie von der Größe und Schönheit dieses Ortes beeindruckt. Die mächtigen, breiten Stufen aus fein stem Marmor führten an dunkelbraunen Holzvertäfelungen entlang, zutiefst altmodisch und dennoch elegant und zeitlos. Am Ende eines jeden Geschosses betrat man durch einen hohen, gotischen Spitzbogen den nächsten Korridor. Der große Kronleuchter und die zahlreiche Wandlampen mussten an Festtagen ein atemberaubendes Licht auf die kalten, hellen Steine und das warme, braungemaserte Holz geworfen haben. Doch diese Zeiten waren mit dem Untergang der Familie von Stratton für immer dahin gegangen. Heute wurde das Treppenhaus allein von den Sonnenstrahlen erleuchtet, die durch die hohen Fenster warm und angenehm hereindrangen. Bis auf den heutigen Tag schien man hier keine elektrischen Leitungen verlegt zu haben.
    Langsam stieg Eleanor die Treppen zum zweiten Obergeschoss empor. Sie war sich nicht sicher, was sie dort zu finden glaubte. Vor allem aber war sie sich nicht sicher, ob sie das finden wollte, was sie dort befürchtete.
    Elizabeth hatte Recht gehabt. Die Wandvertäfelungen des zweiten Obergeschosses waren jeweils am Rand mit kleinen Tierschnitzereien verziert. Bedächtig ging Eleanor die hölzernen Segmente der Vertäfelung ab, auf der Suche nach einer kleinen Eule, deren Flügel abgebrochen war.
    „Was machst du schon so früh hier?“, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihr.
    Eleanor wandte sich um und sah Schwester Veronica hinter sich stehen. Sie lächelte sie freundlich an und legte fragend den Kopf schief. Eleanor hatte sich tüchtig erschrocken und ihr Herz raste, doch der Anblick von Bess‘ Mutter beruhigte sie ein wenig. Schwester Veronica hatte noch ihre Straßenschuhe und einen Mantel an, offensichtlich war sie gerade eben erst zur Arbeit gekommen und hatte noch keine Zeit gefunden, sich umzuziehen.
    „Ich konnte heute Nacht nicht schlafen “, stammelte Eleanor unbeholfen. „Daher bin ich heute schon früh unterwegs. Ich wollte mir dieses Treppenhaus einmal genauer ansehen. Es ist viktorianisch, stimmt‘s?“
    „Ich denke schon “, antwortete Schwester Veronica. „Ich kenne mich in solchen Dingen nicht sehr gut aus. Ich weiß nur, dass dieses Haus in seinen ältesten Teilen über hundertfünfzig Jahre alt ist. Ich habe immer ein unwohles Gefühl, wenn ich durch dieses Treppenhaus gehe. Es scheint hier immer einige Grad kälter zu sein, als in allen anderen Teilen des Hauses.“
    „Warum nur?“, dachte Eleanor. Dann begannen ihre Finger über die kleinen Tierschnitzereien zu streifen. Langsam ging sie die Reihe entlang, während Schwester Veronica fröstelnd hinter ihr stehengeblieben war.
    Da. Dort war die Eule. Sie war tatsächlich sehr klein. Vielleicht Daumengroß, mehr nicht. Und ihr Flügel war zweifellos einmal abgebrochen worden. Heute allerdings fiel dies kaum noch auf, da die Eule so klein und unbedeutend zwischen all den anderen Figuren schien und die Bruchstelle zudem im Laufe der Jahre so stark nachgedunkelt war, dass sie sich vom umgebenden Holz nicht mehr unterschied.
    „Hier. Hier ist es“, flüsterte Eleanor. Dann legte sie beide Handflächen gegen die Wandvertäfelung und stemmte sich mit aller Kraft dagegen.
    Im Inneren der Wand gab es ein klickendes Geräusch. Eleanor zog die Hände zurück und trat von der Wand weg. Ein Spalt hatte sich im Holzsegment geöffnet.
    „Warum hast du die Vertäfelung kaputtgemacht?“, fragte Schwester Veronica bestürzt. „So was kann sehr teuer werden.“
    „Es ist nicht kaputt “, sagte Eleanor leise und wie in Trance ohne Schwester Veronica anzublicken. Ihr Blick war starr auf den Spalt in der Vertäfelung gerichtet. Langsam, beinahe behutsam, schlossen sich ihre Finger um den Rand des Holzsegmentes und zogen es auf.
    Schwester Veronica stieß vor Schrecken laut die Luft aus. Hinter der Vertäfelung befand sich eine kleine Kammer, nur etwa einen Meter breit und in etwa so hoch, wie die davor liegende Holzverkleidung. Zunächst hatten die beiden nichts erkennen können, weil nicht genug Licht in die Kammer drang. Dann jedoch hatte Eleanor sie Vertäfelung weit genug zur Seite geschoben, dass man einen Raum von etwa zwei Metern Tiefe erkennen konnte. Und ganz am Ende der Kammer,

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