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Luftkurmord

Luftkurmord

Titel: Luftkurmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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EINS
    Am schlimmsten war der Gestank. Das Wasser kroch träge über
den Schlamm und hinterließ kleine Bachläufe auf der Oberfläche. Ihre Füße
versanken im Schlick und sie spürte, wie die Masse zwischen ihren Zehen
hindurchquoll und den Knöchel umschloss. Die Kälte kroch ihre Waden hinauf,
aber das störte sie nicht. Mit jedem Schritt gab es ein schmatzendes Geräusch,
das sie an die unwillkommenen Küsse von Tante Rickarda erinnerte, und dann,
wenn sie den Ast, auf den sie sich stützte, aus dem Boden zog, kam der Gestank.
Nach faulen Eiern, nassem Dreck und nach Fisch. Sie schnaubte, versuchte durch
den Mund zu atmen und balancierte weiter. Die anderen sollten es nicht merken.
Die anderen durften es nicht merken.
    »Weiter,
Erich!«, feuerte eine Stimme sie an. »Weiter!« Sie hörte das Kichern der beiden
anderen Mädchen und wusste genau, was gerade hinter ihrem Rücken geschah und
wie breit das Grinsen in den Gesichtern ihrer Freundinnen hing. Aber umdrehen
konnte sie sich nicht. Beide Füße steckten tief im Schlamm fest, und der Sog
des Wassers wurde stärker. Trotzdem wollte sie es wissen. Sie wandte den Kopf.
Sofort verlor sie das Gleichgewicht, ruderte mit beiden Armen in der Luft und
hatte große Mühe, nicht umzufallen. Die anderen lachten. Noch vier Meter, dann
hätte sie es geschafft.
    Das
Rascheln der Blätter in den Baumkronen übertönte das Plätschern des Wassers.
Ein Automotor heulte hoch über ihr auf, als sich der Wagen die steile Straße
den Dürener Berg hinaufquälte. Sonst war alles still. Sie waren allein im
Kurpark. Hans, Franz und sie, Erich. Wie die drei Spatzen in dem Gedicht von
Christian Morgenstern, das sie in der Schule gelernt hatten. Sie fand die Namen
blöd, vor allem, weil es Jungsnamen waren, aber Hans hatte gemeint, wenn man
eine Bande war, dann müsste man geheime Namen haben. Geheime Namen für eine
geheime Bande.
    Sie
umklammerte den Stock und zog. Ihre Fingerknöchel wurden weiß vor Anstrengung.
Wieder ein Stück. Wenige Schritte nur. Das Wasser ging ihr jetzt bis zu den
Oberschenkeln, und als sie den rechten Fuß anhob, blind nach vorne schob und
neuen Halt suchte, stießen ihre Zehen an einen Stein. Angestrengt blinzelte sie
auf die glitzernde Oberfläche, aber außer einem dunklen Schatten erkannte sie
nichts.
    »Jetzt
mach mal schneller!«, rief Franz.
    »Schneller
geht nicht!«, schrie sie zurück und bereute es sofort, als sie das aufgesetzte
Stöhnen vom Ufer hörte. Sie biss die Zähne zusammen. Sie war zehn Jahre alt.
Nach den Sommerferien, die in zwei Wochen begannen, würde sie auf das Gymnasium
in Schleiden gehen. Da durfte man keine Angst haben. Weiter. Noch ein Stück.
Das Wasser zerrte an ihr. Aber jetzt konnte sie den Reifen sehen. Er hatte sich
im Gestrüpp knapp unterhalb des Wehrs verfangen. Sie blieb stehen. Es war
gefährlich, und eigentlich dürfte sie gar nicht hier sein. Mama würde
fürchterlich schimpfen, wenn sie es herausfinden würde. Sie war froh, dass Papa
morgens das Auto brauchte, um zur Arbeit zu fahren, sonst würde Mama nach den
Ferien bestimmt noch auf die Idee kommen, sie genauso ins acht Kilometer
entfernte Schleiden in die Schule zu fahren, wie sie es in Gemünd gemacht
hatte. Bis vor die Tür. Mama wollte nicht, dass sie gefährliche Sachen machte,
und verbot ihr eigentlich alles, was Spaß machte. Aber das hier machte ihr
keinen Spaß. Das hier machte ihr Angst.
    Vorsichtig
hob sie den anderen Fuß auf den glitschigen Stein und schob ihn langsam
vorwärts. Das war besser als der Schlamm. Sie zitterte. Nicht nur weil es kalt
war im Wasser. Sie fürchtete sich. Die Urft war zwar nur ein kleiner Fluss, aber
direkt hier, hinter dem Wehr, strudelte das Wasser ganz schön heftig, obwohl es
vom Ufer aus nicht so aussah. Sie blieb stehen.
    Franz
und Hans riefen ihr etwas zu, aber sie konnte sie nicht verstehen. Diesmal
klappte es mit dem Umdrehen. Die anderen standen dicht nebeneinander an der
Uferböschung und schauten zu ihr hinüber. Ihre nassen Haare klebten an den
Köpfen. Aus den abgeschnittenen Jeans und nassen T-Shirts tropfte das Wasser.
Zwei schwarze Reifen lagen neben ihnen und trockneten in der Sonne. Sie hatten
die Arme vor der Brust verschränkt und starrten sie an. Warteten darauf, was
passieren würde. Ob sie es schaffen würde. Sie ließ die Arme hängen und
seufzte. Es ging nicht. Dann war der Reifen eben weg. Auch egal. Es hatte ihr
eh keinen Spaß gemacht, mit den Autoreifen über die Urft zu schwimmen. Sie

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