Holunderliebe
Ein schöneres Badezimmer, eine neue Küche, Parkett im Wohnzimmer oder auch nur ein frischer Anstrich im Ziegenstall – bei jedem Besuch entdeckte ich etwas Neues. Immer mit einer begeisterten Mutter mitten im Geschehen. Nach ihrer Arbeit als Lehrerin im nahe gelegenen Gymnasium entspannte sie sich mit Pinsel, Schleifpapier oder einem Spachtel in der Hand.
Für mich als Kind hatte dieser Bauernhof das Paradies bedeutet: eine Streuobstwiese hinter dem Haus, ein Hund, ein paar Katzen und eben die drei Ziegen, die das Gras kurz halten sollten. In Wirklichkeit fraßen sie immer genau die Triebe, die eigentlich weiterwachsen sollten, aber bis wir das bemerkten, hatten wir die drei schon viel zu sehr ins Herz geschlossen, als dass wir sie wieder verkauft hätten.
Und natürlich hörte meine Mutter am Telefon sofort, dass ihre Tochter gerade alles andere als eine fröhliche Studentin war. »Was ist denn passiert? Du klingst ja, als wäre der Weltuntergang nahe!«
Ich schluckte. Und dann brach es aus mir heraus. Alles. Erik und Silke und seine Ansage, dass er künftig mehr Freiheit brauchte. Der Professor, der meine Arbeit nicht verstand. Und dann dieser blöde Einfall, das alte Buch übers Wochenende mitzunehmen. Der Sturz, der Regen, das verdreckte und zerrissene Buch.
»Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll!«, bekannte ich schniefend und kam mir wieder vor wie ein kleines Mädchen, das seiner Mutter ein aufgeschlagenes Knie zeigt und um ein Pflaster bittet.
Für einen Moment war es still im Hörer. Dann erklang ein leises Seufzen. »Mein armer Schatz.« Ich konnte förmlich hören, wie meine Mutter um ein paar sinnvolle Lösungen rang. Dann holte sie tief Luft und legte los.
»Als Erstes schlage ich vor, dass du diesen Erik vergisst. Was willst du von dem? Er hat doch ganz offensichtlich eher seinen Spaß im Kopf als dein Wohlergehen. Hör endlich auf, sein Trostpreis zu sein, wenn Silke das Interesse an ihm verliert. Streich ihn aus deinem Gedächtnis, hörst du?«
Ihr Ratschlag klang vernünftig, doch leider wusste ich jetzt schon, dass Erik bei mir wieder offene Türen einrennen würde, sobald er wieder auftauchte. Immerhin hatte ich ihn an diesem Abend vor der Kneipe stehen lassen, das war schon mal ein Anfang, fand ich.
Meine Mutter erwartete keine Antwort, sondern wandte sich dem nächsten Problem zu. »Wenn ich die Sache mit deinem Prof richtig verstanden habe, dann will er eine langweilige Arbeit über Herrschaftsverhältnisse, Kriege und Stammbäume. Das kannst du doch mit links – du schreibst ihm jetzt eine Seminararbeit, die vor langweiligen Fakten nur so strotzt und in der die Zahl der Fußnoten die Seitenzahl um ein Vielfaches übersteigt. Er will fade Fakten? Dann gib sie ihm. Hör auf, solche Menschen mit deinen originellen Ideen von Geschichtsbetrachtung zu überfordern. Er will kleine Häppchen? Kann er haben. Nächstes Semester suchst du dir dann aber bitte genauer aus, bei wem du deine Zeit verschwenden willst.«
Bei ihr klang alles so unendlich einfach. Fast peinlich, dass ich so ein Drama daraus gemacht hatte. Aber jetzt wurde ihre Stimme weniger bestimmt. »Das mit dem alten Buch ist natürlich schlimm. Von wann ist der Band, hast du gesagt?«
»Aus dem 16. Jahrhundert.« Meine Stimme klang kläglich. »Ich weiß, dass das eine dumme Idee war. Aber immerhin ist es kein besonders großartiger Codex oder so etwas. Nur eine Aufzeichnung über die Kriege der Lancasters. Ich habe mir vorgestellt, dass sich das gut in einer Seminararbeit macht. Ein paar Fakten, die mittlerweile vielleicht längst widerlegt worden sind, und so könnte ich die Rezeption des Frühmittelalters …«
»Quatsch«, unterbrach mich meine Mutter. »Du musst dir in dieser Seminararbeit nicht beweisen, dass du doch noch eine geniale Historikerin wirst. Diesen Professor wirst du ohnehin nicht mehr von dir überzeugen können. Du weißt doch: Männer tun sich schwer darin, ihre Meinung zu ändern. Das würde bedeuten, dass sie nachdenken müssen. Und das ist den meisten bei Weitem zu anstrengend!«
»Hin und wieder finde ich deine Weltsicht etwas sehr vereinfachend«, wagte ich zu widersprechen.
»Unsinn. Ich kenne diese weltfremden Wissenschaftler. Sie suchen nach einer Lösung, einer Antwort. Wenn sie eine gefunden haben, dann ist ihre Neugier befriedigt, und sie hören auf zu suchen. Ich denke, das gilt nicht nur für ihre Forschung, sondern auch für ihren Auftrag, an der Universität ein Fach zu lehren.
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