Holunderliebe
Arbeit. Vielleicht schlief er auch, ich konnte nur den Schein der Lampe und die Füße auf dem Boden sehen. Das Mädchen an der Ausgabe sah konzentriert auf ihr Smartphone und tippte auf der Oberfläche herum. Wahrscheinlich verabredete sie sich gerade mit Freunden für den Abend. Oder twitterte in die Welt hinaus, dass ihr Feierabend bevorstand. Zumindest verschwendete sie keinen Blick auf mich oder das, was ich in diesem Augenblick tat.
Keine Ahnung, was mich dazu trieb, das Buch einfach in meine geräumige Tasche fallen zu lassen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann war es einfach die Erkenntnis, dass ich am Wochenende genug aus diesem Buch notieren könnte, um es in meine Arbeit einzubauen. Ordentlich mit Fußnoten, um zu beweisen, dass ich auch vor den unleserlichen Schinken in der Bibliothek des Historischen Seminars nicht zurückscheute. Mit einem Blick vergewisserte ich mich, dass niemand meine »Wochenendausleihe« bemerkt hatte. Aber die Blondine hämmerte weiter auf ihrem Smartphone herum, und der andere Student war schon verschwunden. Zumindest waren seine Füße nicht mehr zu sehen.
Ich stand auf, zog meine Jacke über und warf den Trageriemen meiner Tasche über die Schulter. Mit einem lässigen Winken verließ ich den Raum. So einfach ging es also, einen alten Wälzer zu klauen. Es piepste nicht, und es tauchten auch keine zornigen Aufseher aus dem Nichts auf. Mal ganz abgesehen davon, dass ich dieses Buch ja gar nicht klauen wollte, sondern nur am Wochenende ein paar Sachen abschreiben wollte. Immerhin war mir klar, dass man aus diesen alten Dingern nichts kopieren durfte – der Rücken wäre beim Aufbiegen sicher gebrochen.
Ein Anflug von schlechtem Gewissen befiel mich, während ich das Schloss an meinem Fahrrad öffnete. Würde dieses alte Buch nicht vielleicht doch leiden, wenn es zwei Nächte in meinem Zimmer lag? Dunkel erinnerte ich mich an ein Proseminar, bei dem es um den Erhalt alter Schriften und Dokumente ging. Hatte dieser Mensch nicht etwas von gleichbleibender Luftfeuchtigkeit erzählt? Meine Tasche lag im Fahrradkorb, während ich nachdenklich den Eingang zur Bibliothek musterte. Die Blondine von der Ausleihe kam gerade mit wippendem Gang heraus, lief an mir vorbei und brauste auf einem Motorroller davon.
Der Moment der Entscheidung war vorbei. An diesem Wochenende würde der alte Schinken bei mir sein. Mit dem beruhigenden Gedanken, dass ich ihn gleich am Montagmorgen wieder an seinen Platz legen würde, machte ich mich auf den Nachhauseweg. Und kam keine hundert Meter weit.
»Lena!«
Erik stand vor einer der Kneipen und winkte mit beiden Armen, damit ich ihn ja nicht übersehen konnte. Nur für den Fall, dass ich sein Gebrüll nicht hörte. Er strahlte mich an, als hätte er vollkommen vergessen, was er mir noch am Vormittag alles gesagt hatte.
»Du musst einfach mit reinkommen, wir haben gerade total viel Spaß! Du wirst nicht glauben, wer heute Abend hier ist … Komm schon!«
Bedauernd klopfte ich auf meine Tasche. »Tut mir leid, aber ich muss heute Abend wirklich an mein Studium denken. Das wirst du sicher verstehen. Manchmal muss man einfach Prioritäten setzen, oder?«
Damit trat ich in die Pedale. Dieser Idiot sollte ja nicht glauben, dass ich einfach so über sein Geschwätz von heute Vormittag hinweggehen würde, um dann am Abend wieder mit ihm zusammenzusitzen, Alt zu trinken und einen auf beste Freunde zu machen! Nicht mit mir. Leise murmelte ich eine Schimpftirade vor mich hin. Fast so wie die alten Damen, die vor dem Joghurtregal im Supermarkt leise mit sich selber diskutieren, ob sie heute lieber Erdbeer- oder Pfirsichjoghurt haben wollen.
»Wie kann er es nur wagen? Wie ich Erik kenne, sitzt drinnen seine Silke, und ich soll mich dazusetzen und ein bisschen über Professor A und Dozent B schimpfen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Aber so ist Erik eben. Er denkt nur an sich selber und versteht nicht einmal, was daran verkehrt sein soll. Dauert gar nicht lange, dann steht er wieder auf der Matte und redet, bis meine Ohren glühen. Weil Silke keine Zeit oder keine Lust mehr auf ihn hat …«
Unwillkürlich hatte ich die Abzweigung durch den Wald genommen, die ich nachts normalerweise eher mied. Zu allem Überfluss hatte auch noch ein leichter Nieselregen eingesetzt, der dafür sorgte, dass es noch kühler und unfreundlicher wurde. Der Frühling hatte offensichtlich eine Pause eingelegt. Außer meinem kleinen LED-Licht, dessen einziger
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