Honky Tonk Pirates - Zurück in der Hölle - Band 3
– oh, wie hatte sie sich danach gesehnt! – die Haut unter den zerzausten Locken.
»Ich brauche ein Bad. Ich brauche ein Kleid. Ich brauche einen Hut und ich brauche … Schuhe!« Hannah zischte und fluchte und drehte sich dabei – so wie sie das immer tat, wenn sie nachdenken musste – nervös im Kreis.
»Ich brauche! Ich brauche!«, zischte sie zornig und schaute sich dabei im Turmverlies um.
Dieses Verlies war ein Loch. Vom Sonnenlicht, das durch das spaltgroße Fenster irgendwo zehn Meter über ihr in den Kerker fiel, blieb nur ein Schatten. Das Stroh auf dem Boden stank nach den Viechern, die sich in ihm versteckten, und obwohl Hannah die Ratten und Kakerlaken schon hörte, waren die ihr geringstes Problem. Die kannte sie schon vom Fliegenden Rochen. Die gehörten zum Piratenleben einfach dazu. Die machten es erst zum Piratenleben, so wie ein Schatz eine Insel zur Schatzinsel macht. Ja-mahn, zumindest versuchte sich Hannah jetzt so zu beruhigen. Denn sie war mehr als nervös. Nein, Hannah starb fast vor Angst und hätte ihr das ihr Piratenstolz nicht verboten, sie hätte laut um Hilfe geschrien.
Doch so war sie wütend.
»Was schert es den Teufel«, schrie sie mehr, als sie sang, »wenn man ihn in die Hölle schickt? Ja, was schert es den Teufel oder Honky Tonk Hannah?«
Sie trat und schlug gegen die schimmligen Mauern.
»Was schert es Honky Tonk Hannah, denn sie ist in der Hölle zu Haus!
Könnt ihr mich hören? Hört mich einer von euch gepuderten Säcken?«
Sie schrie zu dem Spalt unter der Decke hinauf.
»Mich schert es ’nen Dreck, denn ich bin in der Hölle zu Haus.«
Doch draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die Gasse vor dem Westturm versank in der Nacht und die beiden kleinen Kapuzengestalten, die wie zwei erdbraune Zwerge aus einem Kellerloch lugten, schauten gleichgültig zum Turmfenster empor. Die Welt schien beschlossen zu haben, Hannah heute zu begraben, und schon ein paar Hausecken weiter, konnte man den Zornesgesang der Piratin gar nicht mehr hören.
Auch der seltsame Fremde hörte sie nicht. Auf einem Rollbrett schob sich der offenbar beinlose Kerl durch eine Gasse der Stadt und fiel unter den zahllosen Bettlern, die Eulenfels’ Herrschaft hervorgebracht hatte, niemandem auf. Der Mantel aus Walhaut schleifte hinter ihm her. Der Kragen war hochgeschlagen. Er verbarg sein Gesicht und unter der Krempe des breiten Hutes konnte man die Augenklappe fast nur erahnen. Er stöhnte und keuchte wie ein sehr alter Mann, doch als er eines der beiden Kinder, die an ihm vorbeirennen wollten, blitzschnell am Arm packte, starrte dieses in ein junges Gesicht: und in ein himmelhellblaues Auge.
»Ich suche eine Frau, eine echte Piratin«, sagte der Fremde und verzog das Gesicht dabei zu einem schelmischen Grinsen, das jeder seiner Freunde trotz der Maskierung sofort als das Grinsen von Will erkannt hätte. »Ich suche Honky Tonk Hannah, die kennt ihr doch oder?«
»Und ob wir die kennen!«, trotzte der Junge, der offensichtlich ein Waisenkind war, ein Kind von der Straße. »Sie ist die beste Piratin der Welt!«
»Ja«, lachte der als Krüppel verkleidete Will. »Das ist sie bestimmt. Doch kannst du mir sagen, wo ich sie finde? Du kennst dich doch aus.«
»Ja, aber du tust das nicht. Du bist ein Dummkopf! Ein Idiot!«, schalt ihn ein anderes Kind, das hinter ihm stand.
Will drehte sich vorsichtig auf dem Rollbrett herum. Dort stand, keine zwei Meter von ihm entfernt, ein etwa neunjähriges Mädchen, das ganz offensichtlich die Schwester des Jungen war, dessen Arm er umfasst hielt. Aber dieses Mädchen sah gar nicht mehr wie ein Mädchen aus. Das Leben auf der Straße hatte sie deutlich verändert. Ihr Kopf war geschoren, wodurch ihr zorniger Blick noch zorniger wirkte, und der Knüppel in ihrer Hand war schon gefährlich genug. Will zweifelte nicht daran, dass sie ihn benützen würde, wenn er ihren Bruder nicht auf der Stelle losließ, und in dieser Absicht machte sie jetzt einen Schritt auf ihn zu.
»Einen Moment«, sagte Will. Er hob beide Hände. »Ich will euch nichts tun. Ich suche nur Hannah. Ich bin ihr Freund.«
»Nein«, zischte das Mädchen und dann schlug sie zu.
Will fiel auf die Straße.
»Du bist nicht ihr Freund. Du bist nur ein Lügner.«
»Aber warum?«, fragte Will, dem schwindelig wurde. »Warum bin ich ein Lügner?«
Er entdeckte auf der Schulter des Mädchens ein Zeichen: einen erdbraunen Zwerg.
»Warum lüge ich?«
Er las unter dem Zwerg die Worte
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