Honky Tonk Pirates - Zurück in der Hölle - Band 3
Angst. Das hätte sie sich niemals vorstellen können. Aber die Angst kroch aus dem feuchten Gemäuer und schlüpfte ihr unter die fröstelnde Haut. Es wurde ihr kalt und dann wurde es noch kälter, als sie erkannte, wovor sie sich wirklich fürchtete. Nicht vor dem Galgen oder dem Tod. Nein, Hannah hatte Angst vor der Einsamkeit. Davor, dass niemand da sein würde, um sie zu betrauern und als ihr das klar wurde, musste sie weinen.
Sie schluchzte und weinte jämmerlich, doch für Talleyrand war das die schönste Musik. Er stand er hinter der Tür im westlichen Turm, presste sein Ohr gegen das kühle Metall und schloss seine Augen.
All seine Niederlagen zogen an ihm vorbei: von den Heerscharen der Möwen, die anstatt Will und Moses die Augen auszupicken, sein stolzes Schiff, den Requin du Roi , mit ihrem Kot übergossen, bis zu der Nacht vor Aweikus Insel, in der Valas, der mächtige Pottwal, seine Schiffe zerstörte.
Doch für all diese Qualen fand er in Hannahs Schluchzen Genugtuung und wenn er sich vorstellte, wie sie am Sonntag, in nur wenigen Stunden, gehängt werden würde, empfand er ein tiefes, beruhigendes Glück. Dann war nur noch einer der Piraten übrig. Höllenhund Will, und den würde er mit Eulenfels’ Hilfe und der dieses Ringes, den sie dann endlich in Händen hielten, auch noch vernichten. Das war sein Ziel. Das war die Niederlage von Chaos und Freiheit, die er so hasste, und so verließ er den Turm und zog sich in seine Kammer unter dem Dach des Schlosses zurück, um zum ersten Mal seit Wochen oder Monaten endlich wieder zu schlafen.
Auch Will blickte über die Dächer der Stadt, die Dächer, die er nur zu gut kannte und die einmal sein Ozean gewesen waren. Sein Traum, der ihn damals am Leben hielt. Doch jetzt war es aus. Der Traum war zerplatzt und selbst der dicke Mantel aus Walrosshaut konnte ihn in dieser eigentlich lauwarmen Nacht nicht mehr wärmen.
Morgen früh würde Hannah gehängt. Ja, Honky Tonk Hannah, die beste Piratin, die es je geben würde, und in seinem Kummer, mit dem er immer wieder die Flaschenpost las, die er in Old Nassau gefunden hatte, merkte der verzweifelte Junge nicht, wie vier Möwen neben ihm landeten. Möwen, die es in Berlin nicht gab und die er vor gar nicht so langer Zeit aus den Ruinen des chinesischen Turms in die Welt hinausgeschickt hatte, um seine Freunde zu rufen.
Ein paar Minuten später war Hannahs Schluchzen verstummt. Sie hatte keine Kraft mehr, um weinen zu können. Doch Schlafen konnte sie auch noch nicht, selbst wenn sie es sich so sehr wünschte. Warum schlief sie nicht einfach ein und wachte erst wieder auf, wenn sie schon am Galgen hing? Hannah lag da und starrte auf eine Ratte, die einen Käfer verspeiste. Der Maikäfer steckte in ihrem Maul und hielt sich mit seinen Vorderbeinen an zwei Strohhalmen fest, so als könnten ihn diese noch retten. Nein, Hannah hatte selbst diese Strohhalme nicht und deshalb lag sie nur da, reglos, wie tot, und schenkte dem Quietschen der Räder draußen vor dem Turm auf der gepflasterten Straße keine Beachtung.
Sie bemerkte auch nicht, wie das quietschende Rollbrett plötzlich anhielt. Wie der offensichtlich gar nicht so beinlose Krüppel von ihm heruntersprang, wie er ein Seil zum Turmfenster hochwarf und wie sich in ihm ein Enterhaken verkeilte, an dem er sich dann an der Turmwand emporzog.
Sie bemerkte sein Flüstern nicht und auch nicht sein Fluchen: »O verfuchst, Hannah, hast du eigentlich den Hauch einer Ahnung, in was für eine verzwickte Situation du mich bringst?«
Sie horchte erst auf, als sie ein Stiefel, ein niegelnagelneuer Stulpenstiefel aus grüngelbem Krokodilleder am Kopf traf. Ihm folgte der andere und traf ihre Schulter. Dann segelte ein Dreispitz zu ihr herab, wie Hannah noch keinen gesehen hatte. Der musste aus Indien kommen, ebenso wie die Seidentücher und Bänder für ihr Haar. Schließlich plumpste ein Sack durch den Fensterspalt, der alles enthielt, was sie brauchte: einen Piratenrock, der passend zu den Stiefeln wie schillerndes Perlmutt, in allen Meeresfarben glänzte. Dazu eine Hose, die bis auf die Schärpe einfach nur schlicht war, schlicht und hellbraun. Und zu guter Letzt noch ein Hemd: und das war so weiß wie die karibischen Strände.
Hannah war sprachlos. Sie sammelte alles einfach nur ein, betrachtete es, als würde sie träumen und kam erst wieder zu sich, als einer von den drei großen, mit Wasser gefüllten Schläuchen, die der Kerl durch das Fenster presste, auf dem
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