Hotzenwaldblues
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Oettinger war rund anderthalb Stunden zu spät gekommen.
Auf der A81 Stuttgart–Singen ging es heute anscheinend nur schleppend voran, es
gab haufenweise Polizeikontrollen wegen der Großdemo gegen den geplanten
Untergrundbahnhof in Stuttgart. Derweil standen die Autofahrer im Stau und
fluchten auf die Um- weltschützer. Kein Wunder. Stuttgart 21, die Bäume im
Stuttgarter Schlosspark oder Atomkraft – das war doch alles ein unvernünftiger
Klüngel, der sich immer weiter radikalisierte. Diese Leute gerieten langsam
außer Rand und Band, fand Fred Malzacher. Sie waren unfähig, logische Argumente
zu begreifen. Als Minderheit terrorisierten sie die Mehrheit.
Doch hier, bei der Informationsveranstaltung der Schluchseewerk AG anlässlich des Besuchs von EU -Energiekommissar
Oettinger, war die Welt noch in Ordnung. Der CDU -Bundestagsabgeordnete
Thomas Dörflinger hatte den Gast in seinen Wahlkreis eingeladen.
Und so saßen sie da, Seite an Seite in engem Schulterschluss und
durchdrungen von einer Gewissheit, die sie alle einte: Sie waren die Guten. Wie
schon in den vergangenen achtundfünfzig Jahren. Trotz der Niederlage der
Christdemokraten bei der Landtagswahl im März. Sie, die kompetenten Macher,
hatten Baden-Württemberg zum Wirtschafts-Musterland gemacht. Dieses Gefühl war
zu einem Teil von ihnen geworden. Sie hatten es mit der Muttermilch eingesogen.
Manche kamen aus regelrechten CDU -Dynastien. Der Vater
des Bundestagsabgeordneten Thomas Dörflinger beispielsweise war vor diesem
Bundestagsabgeordneter gewesen.
An diesem Tag blickten sie mehr oder weniger konzentriert auf die
Leinwand, die in die Holzvertäfelung an der Stirnseite des sechseckigen
Konferenzraumes im Bad Säckinger Infocenter der Schluchseewerk AG eingelassen war, schräg hinter dem Rednerpult mit
dem Firmensymbol, einem S, von dem blaue Strahlen ausgingen. Sie nickten
bedächtig zu Bildern und Statistiken, die von einem Beamer auf die weiße Fläche
projiziert wurden. Zahlen, Daten, Fakten und Baupläne des von der
Schluchseewerk AG geplanten neuen
Pumpspeicherwerks mit einem großen Stausee im Hotzenwald und einem weiteren
oberhalb des Bad Säckinger Kurgebietes. Und sie lächelten einander zu, in
stillschweigendem Einvernehmen, dass dies ein weiteres der Projekte war, die
Baden-Württemberg voranbrachten.
Stefan Vogt, der Geschäftsführer der Schluchseewerk AG schwitzte. Es versprach ein heißer Tag zu werden.
Viel zu heiß für die zweite Maihälfte. Zudem stand einiges auf dem Spiel,
schließlich ging es um das mit einem Volumen von weit mehr als einer Milliarde
Euro zweitgrößte Bauvorhaben Baden-Württembergs. Dafür wurden Genehmigungen und
Zuschüsse benötigt. Ein Projekt, von dem viele profitieren würden.
Fred Malzacher zählte nicht zu den V.I.P. s.
Er saß nicht in der ersten Reihe neben Landrat Tillmann Bollacher, dem
Landtagsabgeordneten Felix Schreiner, EU -Energiekommissar
Günther Oettinger und Thomas Dörflinger. Der Platz von Nicolaus Römer,
technischer Leiter des Schluchseewerks, war gerade leer. Römer stand hinter dem
Rednerpult. Seine Frau hieß Daniela. Nach ihr war der Sondierungsstollen für
das Projekt benannt.
Malzacher hörte auch nicht zu, er kannte das alles, hatte die Vorlagen
teilweise selbst erstellt. Er genoss den Moment. Die Gewissheit, dass sich die
Machtverhältnisse vor Ort nicht so schnell ändern würden. Auch wenn in
Stuttgart nun ein grüner Ministerpräsident regierte. An den eigentlichen
Rädchen im Regierungspräsidium, im Landratsamt, in den Stadt- und Gemeinderäten
von Wehr, Bad Säckingen, Herrischried und Rickenbach drehten noch immer die
Angehörigen der eingespielten Seilschaften. Dort, wo die praktische Arbeit
getan wurde, saßen Männer, die sich zumeist schon lange kannten, einander
einschätzen konnten und das richtige Ziel hatten. Hanspeter Gerber, sein
Ansprechpartner beim Regierungspräsidium Freiburg und jetziger Stuhlnachbar,
war so ein Mann. Oder dessen Bruder Frank Gerber, dem der Platz in der zweiten
Reihe direkt hinter Oettinger zustand. Er hatte Karriere gemacht, war zum
stellvertretenden Abteilungsleiter im Stuttgarter Wirtschaftsministerium
aufgestiegen. Malzacher kannte die Gerber-Brüder seit der Schulzeit. Wenn Frank
es richtig machte und sich bedeckt hielt, konnte er die Zeit aussitzen, bis in
Baden-Württemberg wieder die CDU regierte. Und
dass es so kommen würde, stand für Fred Malzacher außer Frage.
Wenn es so weit war, würde der
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