Hueter Der Macht
Außerdem, wenn ich weiter in diesen ›sicheren‹ Mauern bleibe, wird eine noch viel schlimmere Pestilenz die Christenheit befallen als jene, die gegenwärtig herrscht. Ich muss gehen. Tretet beiseite.«
»Bruder, die Straßen sind voll mit Sterbenden und Räubern, die ihre Taschen durchwühlen und ihnen die Ringe von den Fingern ziehen.« Prior Bertrand mäßigte seine Stimme, während er versuchte, den alten Mann zur Vernunft zu bringen. Bruder Wynkyn war schon immer schwierig gewesen. Bertrand wusste, dass Wynkyn sogar einmal den Heiligen Vater selbst niedergebrüllt hatte, und ihm war klar, dass jemand, der mächtig genug war, einen Papst einzuschüchtern, ihm keine Beachtung schenken würde. »Wie wollt Ihr nur mit all den Schwierigkeiten und Gefahren, die auf den Straßen von hier bis Nürnberg auf Euch lauern, fertig werden? Ich bitte Euch, bleibt bei uns.«
»Ich würde die Erde zu einem langsamen Abstieg in den Wahnsinn verdammen, wenn ich hierbliebe.« Wynkyn legte das Buch – er benötigte die Kraft beider Arme, um es anheben zu können – und mehrere lose Blätter einer eng beschriebenen Handschrift in eine messingbeschlagene Eichenschatulle mit flachem Deckel. Sie war gerade groß genug, um das Buch und die Blätter aufzunehmen. Als Wynkyn die Schatulle geschlossen hatte, sperrte er sie mit einem Schlüssel zu, der an einer Kette an seinem Gürtel hing.
Bertrand sah ihm einige Zeit schweigend zu und versuchte es dann noch einmal. »Und wenn Ihr unterwegs den Tod findet?«
Wynkyn warf dem Prior einen verärgerten Blick zu. »Ich werde unterwegs nicht den Tod finden! Gott und seine Engel beschützen mich und mein Vorhaben.«
»So wie sie all die anderen unschuldigen Seelen beschützt haben, die in den letzten Wochen und Monaten gestorben sind? Wynkyn, nichts kann die Menschheit vor dem Übel dieser Pestilenz bewahren!«
Wynkyn prüfte noch einmal sorgfältig, ob die Schatulle fest verschlossen war. Er wandte Bertrand den Rücken zu.
»Rom stirbt«, sagte Bertrand mit leiser Stimme. »Auf den Straßen stapeln sich sechs Fuß hoch die Leichen und die schwarze Beulenpest sucht sich mit jedem Windhauch neue Opfer. Gott hat uns ob unserer Sünden sein zorniges Gesicht gezeigt, und die Engel haben sich von uns abgewendet. Wenn Ihr jetzt das Kloster verlasst, werdet Ihr mit Sicherheit sterben.«
Wynkyn gab immer noch keine Antwort.
»Bruder«, sagte Bertrand mit Verzweiflung in der Stimme. »Warum müsst Ihr gehen? Was ist so wichtig, dass Ihr dafür den sicheren Tod in Kauf nehmt?«
Wynkyn wandte sich dem Prior zu und blickte ihm fest in die Augen. »Wenn ich jetzt nicht gehe, bedeutet das das sichere Ende der Christenheit«, sagte er. »Geht mir aus dem Weg, Bertrand, oder helft mir, diese Schatulle zu meinem Maultier zu tragen.«
Bertrands Augen füllten sich mit Tränen. Er machte eine hilflose Geste, doch Wynkyns Blick blieb fest.
»Nun?«, fragte Wynkyn.
Bertrand seufzte tief und hob dann die Schatulle an einem ihrer Griffe an. »Friede sei mit Euch, Wynkyn.«
»Friede ist nie mit mir gewesen«, sagte Wynkyn, während er den anderen Griff nahm. »Und wird es auch nie sein.«
Wynkyn de Worde hatte die Reise von Rom nach Nürnberg in den letzten fünfzig Jahren über einhundert Mal unternommen, doch niemals zuvor solch schweren Herzens. Er war dreiundzwanzig gewesen, als der damalige Papst, der große Bonifatius VIII. ihn 1296 zum ersten Mal in den Norden geschickt hatte.
Dreiundzwanzig, und mit einem Geheimnis betraut, das so entsetzlich war, dass die meisten Männer die furchtbare Verantwortung, die damit einherging, nicht ertragen hätten. Doch Wynkyn war ein außergewöhnlicher Mann, stark und entsagungsvoll, Gott ergeben und mit einem so unerschütterlichen Glauben, dass Bonifatius verstand, warum die Engel ihn dazu auserwählt hatten, die alljährlichen Rituale zu vollführen, mit denen das Böse in den Schlund zurückgedrängt wurde – in das Tor zur Hölle.
»Verratet dieses Geheimnis irgendjemandem«, hatte Bonifatius dem jungen Dominikaner erklärt, »und Ihr könnt sicher sein, dass die Engel selbst für Euren Tod sorgen werden.«
Da er bereits in das scheußliche Geheimnis eingeweiht war, wusste Wynkyn, dass der Papst die Wahrheit sprach.
Bonifatius hatte sich zufrieden in seinem Stuhl zurückgelehnt. Seit den Anfängen des Papsttums im frühen Mittelalter hatten seine Inhaber das Geheimnis des Schlundes bewahrt und vertrauten es nur dem Geistlichen an, den die
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