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Wo niemand dich sieht

Titel: Wo niemand dich sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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Prolog
    Edgerton, Oregon
    Es war eine pechfinstere Nacht. Bis auf das leise Schnurren des neu getunten Porschemotors war es vollkommen still. Dennoch hörte sie wieder die leise, schluchzende, flehende Frauenstimme. Sie verfolgte sie jetzt ständig. Nie ließ sie ihr Ruhe.
    Niemand sonst war in der Nähe, nur Jilly, die allein über die gewundene Küstenstraße brauste. Weiter unten rauschte das Meer. In der mondlosen Dunkelheit sah es aus wie eine riesige schwarze Fläche. Der Porsche, der auf die kleinste Bewegung reagierte, schwang ein wenig nach links, auf die Klippen zu und auf die jenseits davon sich erstreckende, endlose schwarze Fläche. Jilly riss das Lenkrad herum und der Wagen schlingerte zur Fahrbahnmitte zurück.
    Die Stimme in ihrem Kopf, Lauras Stimme, begann zu schluchzen, immer lauter, bis ihr der Kopf zu platzen drohte.
    »Aufhören!« Jillys Schrei zerriss einen Moment lang die Stille der Nacht. Ihre Stimme klang hässlich und gemein, überhaupt nicht wie Lauras. Lauras Stimme war kindlich, die Stimme eines verlorenen, untröstlichen Kindes. Nur der Tod brächte Ruhe. Jilly spürte, wie die Stimme erneut in ihr anschwoll. Sie packte das Lenkrad fester und starrte geradeaus, betete, flehte innerlich, die Stimme möge schweigen, Laura möge verschwinden.
    »Bitte«, flüsterte sie. »Aufhören, bitte. Lass mich in Ruhe. Bitte.«
    Aber Laura hörte nicht auf. Die verzweifelte Kinderstimme war verschwunden. Jetzt war Laura wieder sie selber, wütend, voller Hass. Widerliche Worte troffen aus ihrem Mund, spien Hass und Speichel auf Jilly, die den Geschmack tief in ihrer Kehle schmeckte. Sie hämmerte mit den Fäusten aufs Lenkrad, immer fester, rhythmisch, um die bösartige Stimme in ihrem Kopf zu vertreiben. Sie ließ das Seitenfenster herunter, ganz herunter, so dass sie den Kopf hinauslehnen konnte und der Fahrtwind ihr die Haare zerzauste, in ihren Augen brannte, dass sie tränten. Laut kreischte sie in die Nacht hinaus: »Aufhören!«
    Und es hörte auf. Schlagartig.
    Jilly holte tief Luft und zog den Kopf wieder ins Auto. Der Wind peitschte ins Wageninnere, und sie schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende. Herrliche, eiskalte, belebende Luft. Einfach wundervoll. Es war vorbei. Gott sei Dank, es war endlich vorbei. Sie blickte sich um. Wo war sie überhaupt? Seit Stunden schon, so schien es ihr, fuhr sie nun ziellos herum, doch die Digitaluhr in ihrem Auto zeigte lediglich Mitternacht an. Sie war erst vor einer halben Stunde von zu Hause aufgebrochen.
    Ständig, andauernd hörte sie dieses Flüstern und Wispern, dieses Geschrei, bis sie glaubte, es nicht mehr ertragen zu können. Doch jetzt herrschte Stille, vollkommene Stille. Gesegnete Stille.
    Jilly begann zu zählen. Eins, zwei, drei - keine Hasstiraden, kein Flüstern, keine flehende Kinderstimme, nichts, nur das Geräusch ihres Atems und das sanfte Schnurren des Autos. Sie warf den Kopf in den Nacken, schloss einen Moment lang die Augen und genoss die herrliche Stille. Dann begann sie wieder zu zählen. Vier, fünf, sechs - gesegnete Stille.
    Sieben, acht - ein hauchzartes, unendlich fernes Rascheln, wie von Blättern, das langsam näher kam. Nein, kein Rascheln, ein Flüstern. Laura flüsterte schon wieder, flehte sie an, sie am Leben zu lassen, bat und bettelte, schwor, es wäre nie ihre Absicht gewesen, mit ihm zu schlafen, es sei einfach passiert und es sei seine Schuld. Aber Jilly glaubte ihr nicht.
    »Aufhören, bitte aufhören, bitte«, flehte Jilly wie ein Mantra, um die Flüsterstimme in ihrem Kopf zu übertönen. Da begann Laura zu keifen, Jilly wäre ein erbärmliches Miststück, eine Närrin, die nicht sehen könne, was sie in Wirklichkeit war. Jilly trat hart aufs Gaspedal. Der Porsche machte einen Satz, schnellte auf siebzig Meilen pro Stunde, auf achtzig, auf fünfundachtzig. Die Küstenstraße schien zu schlingern. Sie hielt den Wagen direkt auf dem Mittelstreifen. Sie fing an zu singen. Laura schrie immer lauter und Jilly sang immer lauter. Neunzig. Fünfundneunzig.
    »Verschwinde. Verdammt noch mal, verschwinde!« Jilly umklammerte das Steuer so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihr Kopf war vorgesunken, berührte fast das Lenkrad. Das Vibrieren des Motors verlieh Lauras schriller Stimme eine unheimliche Macht.
    Einhundert.
    Jilly sah die scharfe Kurve, aber Laura kreischte gerade, dass sie bald vereint sein würden, sehr bald. Sie könne es nicht abwarten, Jilly in die Finger zu kriegen. Dann würden sie schon

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