Hüttengaudi
zwölfhundert Metern gewachsen ist?«, erkundigte sich Irmi.
»Na, des isch a Mythos. Es gaoht au mit Fichta, dia weiter dunda wachset.« Er lachte sie an. »I bi dr Sepp.« Reichte ihr die Hand und fuhr dann in bestem Hochdeutsch fort: »Wenn man ein Alphorn aus einem Stamm schaffen will, sollte der Baum eine Krümmung aufweisen. Die erhält er zum Beispiel, wenn der junge Setzling durch den Schnee zu Boden gedrückt wird und später dann dem Licht zustrebt. Eng gewachsenes Holz ist für den Musikinstrumentenbau, gerade bei Geigen, sehr wichtig. Und in Hochlagen wachsen die Bäume sehr langsam, die Jahresringe liegen viel dichter beisammen als beim Talholz. Deshalb die Zwölfhundert-Meter-Regel, aber zwingend ist das nicht.«
Irmi lächelte den Mann an. »Du kennst dich aus?«
»Ja, i bau dia Trümmer au.«
Es war großartig, wie er zwischen seinem Heimatdialekt und dem gepflegten Deutsch für die Touristen hin und her springen konnte. Der Mann war eindeutig zweisprachig.
»Mei, heutzutage gibt’s Alphörner auch zwei- oder dreiteilig, aus Transportgründen. Es isch ja au bled, wenn ma so a Trumm auf em Dach transportiera muas oder es aus’m Fenschtar vom Auto naus hängt.«
Sie plauderten eine Weile. Sepp, der sicher weit über siebzig war, setzte sich zu Irmi ins Gras und erzählte weiter. Er war ein Alphornbauer der ersten Stunde gewesen.
»Als Buaba hond mir scho auf em Gartaschlauch gschpielt«, berichtete er lachend.
Und Irmi erfuhr, dass der Heimatbund das Alphorn im Allgäu 1958 wiederbelebt hatte und das erste Alphorn damals in Marktoberdorf erklungen war – »also fascht im Unterland«.
Der Tag hatte sich zum Guten gewendet. Sepp hatte sie noch eingeladen, ihn bei Gelegenheit zu besuchen, und es war dunkel, als sie zu Tale marschierten. Lissi ging neben dem Sachsen, sie lachten und scherzten, Irmi versuchte ab und zu, Lissis Blick zu erhaschen, aber die sah weg. So what, Lissi war schließlich erwachsen.
2
Irmi ging ins Bett. Diesmal ohne Hungergefühl. Sie hatte an ihrem Handy einen etwas freundlicheren Weckton eingestellt und fügte sich in die frühmorgendliche Packung. Es war der vierte Tag, sie war allmählich drin im Kurrhythmus und entschlief sanft in ihrem Ganzkörperwickel. Bis ein gellender Schrei sie weckte.
Es war ein Schrei in einer ohrenbetäubenden Frequenz. Darauf folgte ein herzhaftes: »Scheiße, das darf doch nicht wahr sein!« Sie hörte Getrappel zur Tür und Rufe nach irgendwem. Wer das sein sollte, blieb Irmi ein Rätsel. Es war halb fünf, wer sollte schon da sein außer der Packerin? Das Getrappel kam zurück, es war mehr ein Flapp-Schlapp, das Geräusch, das schlecht am Fuß vertäute Crocs erzeugen. Die Packerin trug solche Dinger.
Vergeblich versuchte Irmi, sich zu befreien, aber das gelang ihr nicht, also rief sie: »Was ist los? Hallo?«
Keine Antwort.
»Hallo? Ich bin von der Polizei!«
Das Flapp-Schlapp erreichte ihre Tür. Die Packerin öffnete und starrte sie mit großen Augen an.
»Frau Mangold, Sie sind von der Polizei?«
»Ja, sogar Hauptkommissarin. Bei der Kripo. Also, was ist los?«
»Da drüben! Oh Gott, das ist mir noch nie passiert!«
»Holen Sie mich da mal raus!« Irmi hasste es, wenn Menschen keine präzisen Angaben machten. Und ein »Oh Gott!« half nie weiter. Der war im entscheidenden Moment nicht zuständig, das hatte Irmi in ihrem Leben gelernt.
Die Packerin tat wie ihr geheißen, und anstatt sich abzuduschen, wickelte sich Irmi in den Bademantel, der ungut an ihrer schwitzigen Haut klebte. Sie fummelte ihre Zehen in die Flip-Flops und unter zweistimmigem Flapp-Schlapp gingen sie in die Nachbarkabine.
Da lag ein Mann. Im Wickel. Sein Kopf war zur Seite gesunken. Ein erbärmliches Bild, das diese Schroth-Mumie abgab! Aber elend sahen sie doch alle aus bei dieser Kur.
Die Augen der Packerin waren weit aufgerissen. Sie wiederholte leise flüsternd: »Das ist mir noch nie passiert.«
Irmi trat näher. Sie fühlte mit geübtem Griff die Halsschlagader. Da war Stille. Der Mann war tot, keine Frage.
Irmi drehte sich zu der Frau um. »Was haben Sie gemacht?«
»Ich? Nichts!«
Das war vielleicht genau das Problem. Ein Zertifikat im Schwitzfolterkeller besagte, dass die Packerinnen die erforderlichen Weiterbildungsmaßnahmen wie regelmäßige Erste-Hilfe-Kurse absolviert hätten. Der Ausweis als anerkannte Schrothkurpackerin musste alle zwei Jahre bestätigt werden. Doch es schien an der Praxis zu hapern.
Irmi atmete tief durch.
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