Hüttengaudi
Plötzlich ertönte von irgendwoher ein schauerliches Geräusch. Felswände schienen einzustürzen, und eine Sirene heulte grauenvoller als alles, was je an ihr Ohr gedrungen war.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Das Geräusch kam von einem Radiowecker und war so laut, dass es die gesamte Unterwelt geweckt hätte. Hektisch hieb Irmi auf einige Tasten ein, doch das Gerät dröhnte weiter. Mit einem jähen Sprung aus dem Bett erreichte sie die Stromzufuhr und entriss dem Ding den Saft. Leider hing nun auch die halbe Steckdose aus der Wand.
Irmis Herz raste. Dass es nun auch noch klopfte und jemand etwas von Tee flötete, der draußen stehe, gab ihr den Rest. Sie hatte, bevor sie den Wecker so rüde vom Strom getrennt hatte, einen Blick darauf geworfen. Es war halb vier Uhr in der Früh, da stand nicht mal ein Landwirt auf!
Gestern bei der Einführung hatten sie das nun folgende Horrorszenario bereits durchgesprochen: Irmis schlafwarme Haut wurde in feuchte Tücher gewickelt, damit der Körper gegen die Kälte mit einer gesteigerten Durchblutung anheizte. Wärmflaschen im Rücken, an den Füßen und auf dem Bauch trieben den Schweiß zusätzlich aus allen Poren. Die anschließende Schnürung war am schlimmsten. Da durfte man wirklich nicht klaustrophobisch sein. Und von wegen wohlig warme Hülle. Irmis Tüchergefängnis heizte sich nicht auf. Sie fror. Ziemlich lange. Bis sie um Hilfe rief und ihr erklärt wurde, dass ihr Körper eben noch ganz falsch reagiere. Einen bedauernden Blick hatte ihr die Packerin zugeworfen und versichert, dass sie mit zunehmender Entgiftung auch normaler reagieren werde. Normaler?
Immerhin schlief Irmi im Wickel wieder ein und zog sich, nachdem sie entwickelt worden war, nochmals in ihr Bett zurück. Gut, das Frühstück war ja auch nicht der Rede wert, ebenso wenig wie das Mittagessen. Nachdem sie und Lissi sich wirklich nicht für Nordic Walking hatten erwärmen können, hatte man ihnen den Ponyhof empfohlen. Zum Fünf-Uhr-Tee.
Das Lokal entdeckten sie in Weidach. Mit Ponys hatte es wenig zu tun – die Pferdchen hier waren von anderem Kaliber. Vorbei schwebten mit kostbaren Ketten und Armreifen behängte Damen weit jenseits des Alters, das man gerne zugab.
Auf der Terrasse lag ein Flor aus Rosenblättern, offenbar anlässlich einer Hochzeit. Der Mann, der sich verehelicht hatte, war ein berühmter Doppelprofessor an der Uni Tübingen – das entnahmen Irmi und Lissi der Unterhaltung zweier Damen am Nebentisch, deren altersgemäße Taubheit dazu führte, dass sie extrem laut redeten.
Irmi blickte zum Hochzeitspaar hinüber: Das neue Weibchen war eine bildschöne orientalisch aussehende Frau, Irmi vermutete, eine Iranerin. Sie war etwa so alt wie die erwachsenen Kinder des Herrn Professor, denen anzusehen war, wie sehr sie die neue Stiefmama schätzten. Die eine Tochter blickte unentwegt auf das sanft gerundete Bäuchlein der Iranerin. Ein Hauch eines Bauchs – im engen Partykleid aber sichtbar. Die Tochter schien ihre Erbpfründe schwinden zu sehen.
An einem zweiten Tisch saßen weitere geldige Gäste, ebenfalls behängt mit allerlei schwerem Schmuck. Eine Frau redete ohne Punkt und Komma, und Irmi fragte sich, ob diese Dame denn nie Luft holte.
Irgendwann kamen Riesenplatten mit Backhendl, Leberkäse und Obatzda – in den Himmel wachsende Gestelle, die üppig mit Brezen behängt waren. Irmi warf einen Seitenblick auf Lissi, die hektisch an ihrem Wasser sog.
»Ungesundes Zeug«, sagte Lissi. »Ich glaub, wir zahlen mal.«
Wenig später trollten sie sich. Draußen kamen sie an Porsche Cabrios vorbei, einem Maybach, zwei Bentleys, diversen Benzen und ein paar Z3s, die neben den Riesenkutschen so wirkten, als gehörten sie der Putzfrau.
Sie stapften bergwärts, und Irmi war wirklich verwundert, wie frisch sie ausschreiten konnte, obwohl sie nichts gegessen hatte. Schweigend gingen sie voran, bis Lissi schließlich sagte: »Prominent sein ist vielleicht a Soach.«
Irmi musste lachen. Lissi war wirklich eine Philosophin.
Am nächsten Morgen hatte Irmi den Eindruck, dass sie sich schon etwas schneller erwärmte in ihrem Wickel. Das Problem an dieser Kur war natürlich, dass man zu viel Zeit hatte. Ein normaler Menschentag wurde in angemessenen Abständen von Essen unterbrochen. Man überlegte, was man kochen würde. Oder aber man studierte Speisekarten, man saß, wartete, aß. Man räumte Geschirr weg. Essen teilte den Tag in vernünftige Abschnitte. Essen war
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