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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Übersetzens erlernt hatte, steckte Alfonso sich eine Rolle dieser Blätter in die Taschen, die stets strotzten von Zeitungsausschnitten und Handbüchern seltener Berufe, und eines Abends verlor er sie im Haus der kleinen Mädchen, die aus Hunger mit Männern schliefen. Als der betagte Weise das erfuhr, lachte er sich halb tot, statt ihm den befürchteten Marsch zu blasen, und meinte, das sei das natürliche Schicksal der Literatur. Dafür konnte ihn keine Menschenmacht davon abbringen, die drei Kisten in sein Heimatdorf mitzunehmen, und er erging sich in Schmähungen gegen die Eisenbahnbeamten, die sie unbedingt als Frachtgut schicken wollten, bis er es durchsetzte, sie im Personenabteil als Handgepäck zu verstauen. »Die Welt wird an dem Tag im Arsch sein«, sagte er damals, »wenn die Menschheit erster Klasse reist und die Literatur im Gepäckwagen.« Das waren seine letzten Worte. Mit den letzten Reisevorbereitungen hatte er eine düstere Woche verbracht, denn je näher der Abfahrtstag rückte, desto mehr schwand seine gute Laune; seine Absichten gerieten durcheinander, und die Dinge, die er an einen Ort gelegt hatte, tauchten an einem anderen auf, und nun setzten ihm die gleichen Gespenster zu, die Fernanda geplagt hatten.
    »Hodenhunde!« fluchte er, »ich scheiße auf den Kanon Nummer siebenundzwanzig der Synode von London.«
    Germán und Aureliano nahmen sich seiner an. Sie halfen ihm wie einem Kind, steckten ihm seinen Fahrschein und seine Ausweise mit Sicherheitsnadeln in den Taschen fest, stellten eingehende Reisevorschriften für ihn auf, damit er Bescheid wisse, was er von seiner Abreise von Macondo bis zu seiner Ankunft in Barcelona zu tun habe, doch dies hielt ihn nicht davon ab, ein Paar Hosen, in denen er die Hälfte seiner Barschaft verwahrt hatte, in den Müll zu werfen. Am Vorabend seiner Abreise, nachdem er seine Kisten zugenagelt und die Kleider in denselben Koffer gepackt hatte, mit dem er gekommen war, blinzelte er mit seinen Muschellidern, winkte mit einem dreisten Segenswunsch den Bergen von Büchern zu, dank derer er die Verbannung überstanden hatte, und sagte zu seinen Freunden:
    »Diese Scheiße lasse ich euch!«
    Drei Monate später erhielten sie in einem großen Umschlag neunundzwanzig Briefe und mehr als fünfzig Bilder, die er in seinen Mußestunden auf hoher See gesammelt hatte. Obwohl er kein Datum angab, war die Reihenfolge, in der er die Briefe geschrieben hatte, leicht zu erraten. In den ersten Briefen erzählte er mit seinem üblichen Humor von den Erlebnissen der Überfahrt, von seiner Lust, den Gepäckmeister, der ihm nicht erlaubt hätte, die drei Kisten mit in seine Kabine zu nehmen, über Bord zu werfen, von der hellsichtigen Blödheit einer Dame, die sich über die Nummer dreizehn entsetzte, doch nicht aus Aberglauben, sondern weil sie in ihr eine unvollendete Zahl sah, und von der Wette, die er beim ersten Abendessen gewonnen hatte, weil er in dem an Bord servierten Wasser den Geschmack von nächtlichen roten Rüben aus Leridas Quellen erkannt hatte. Im Verlauf der Tage jedoch hatte ihn das Leben an Bord immer weniger interessiert, während ihm die jüngsten, belanglosesten Ereignisse begehrenswert erschienen, da sein Gedächtnis desto trauriger wurde, je weiter sich das Schiff entfernte. Diese zunehmende Sehnsucht war auch auf seinen Bildern sichtbar. Auf den ersten, im Oktobergeflimmer des Karibischen Meers, sah er mit seinem schneeigen Schöpf und seinem Invalidenhemd glücklich aus. Auf den letzten war er in einem dunklen Mantel und einem seidenen Halstuch zu sehen, ein Schatten seiner selbst und wortkarg durch Entfremdung, auf dem Deck eines Alptraumschiffes, das auf herbstlichen Meeren schlafwandelte.
    Germán und Aureliano beantworteten seine Briefe. In den ersten Monaten schrieb er so viele, daß sie sich ihm jetzt näher fühlten als während seines Aufenthalts in Macondo und fast ihren Ingrimm über seine Abreise vergaßen. Anfangs berichtete er, alles sei beim alten, in seinem Geburtshaus sei noch immer die rosafarbene Muschel, die getrockneten Heringe auf Brotrinde schmeckten noch immer gleich, der Wasserfall des Dorfs dufte noch immer in der Abenddämmerung. Es waren noch immer die mit maulbeerfarbenem Gekleckse vollgeschmierten Schulheftbogen, auf denen er einem jeden von ihnen einen Absatz widmete. Und doch wurden, ohne daß ihr Verfasser es zu merken schien, diese Episteln des Nachholbedarfs und Aufschwungs zu Hirtenbriefen der Enttäuschung. In

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