Hungerkralle
richtiges Bier bekommen konnte, war das Erste,
was Karl verblüffte. Aber er sollte sogleich noch mehr zu staunen bekommen.
Ein mürrisch dreinblickender Wirt führte
sie wortlos in ein Hinterzimmer. Erst als er die Tür hinter ihnen geschlossen
hatte, wurde er gesprächiger, aber nicht viel. »Kohlrouladen gibt’s oder Strammen
Max.«
Benno schaute Karl fragend an.
»Rouladen, bitte.«
»Ick ooch«, sagte Benno und zeigte auf
einen Tisch in der Ecke abseits von den anderen Speisenden im Zimmer. »Wollen
wa’n Bier dazu trinken?«
Karl hatte nichts dagegen. Er wunderte
sich bloß, wie das alles möglich war in einer Stadt, wo ein Heringsschwanz oder
Wurstzipfel schon als ausgemachte Delikatesse galt.
»Denn hau mal rin, scheinstet ja arg
nötich zu haben, wenn ick so richtich kieke«, ermunterte Benno den Freund.
Karl verzehrte die unverhoffte Mahlzeit, ohne viel
dabei zu reden, dafür redete Benno umso mehr.
Er hatte zufällig einen hohen russischen
Offizier kennen gelernt, der erfreulicherweise durch und durch korrupt war und
ihn mit allen möglichen Nahrungsmitteln aus Armeebeständen versorgte: wertvolle
Tauschware für die Schwarzmärkte überall in der Stadt. Der Profit, den der
illegale Handel abwarf, war immens. Gold hatten die Patrioten im Ersten
Weltkrieg für Eisen genagelt. Das hatte bekanntlich nichts geholfen. Ihr
Vermögen war auf den Schlachtfeldern verpulvert worden, war unwiederbringlich
verloren. Aber wenigstens hatten sie nach Kriegsende nicht in Höhlen
dahinvegetieren müssen. Die Hungernden in den Ruinenlandschaften, die ihnen der
Machtrausch eines größenwahnsinnigen Führers hinterlassen hatte, gaben jetzt
willig Gold für Mehl und Kartoffeln. Und daran verdienten nicht nur Benno und
sein russischer Offizier.
An den Nachbartischen ließ man es sich
ebenfalls sichtlich schmecken. Karl musste an das feuchte Stück Brot in seiner
Jackentasche denken.
Plötzlich strahlte der Freund ihn an.
»Na, Karlchen, wollen wa unsern Grips nich zusammenschmeißen? Die Amis und
Briten kommen demnächst ja ooch nach Berlin.«
»Das habe ich auch in der Zeitung
gelesen. Und die Franzosen anscheinend etwas später. Aber, Mensch, Benno , du kennst
mich doch. Zum Feilschen bin ich so unbegabt wie eine Kuh zum
Opernariensingen.«
»Det lass ma nur meene
Sorje sein. Ick brooch denn dringend eenen zum Übersetzen, der so jut
Fremdsprachen kann wie du. – Det schnöde Handeln deichsle ick schon, keene
Sorje!«
»Ich schlaf mal drüber, Benno.«
»Mach det. – So, nu muss ick mir aber leider wieder um
meene Jeschäfte kümmern. Wenn ick den Leuten nich andauernd uff de Finger
glotze, bescheißen se mir nämlich nach Strich und Faden.« Benno stand auf,
tuschelte eine Weile mit dem Wirt und kam an den Tisch zurück. »Wennstet dir
überleecht hast, falls de mitmachen willst: Ab spätem Nachmittach bin ick
eijentlich imma inna Laube zu finden.«
Karl nickte. »Danke für die
Verköstigung.«
»Keene Ursache, meen Bester, jemaach,
jemaach! Is übrijens allet schon bezahlt. Trink det Bier also nur janz in Ruhe
aus.« Mit einem Augenzwinkern verabschiedete er sich.
Als Karl das Lokal wenig später verließ, drückte der
Wirt ihm den Henkel einer mit Pergamentpapier verschlossenen Milchkanne mit den
Worten »Das soll ich Ihnen noch von Herrn Hofmann geben« in die Hand.
»Kohlrouladen«, fügte er hinzu, als er Karls überraschtes Gesicht sah.
Nachdem Karl auf der Straße ein paar Schritte gegangen
war, zog er sein Jackett aus und hängte es sich über den Arm. Es war warm
geworden. ›Wonnemonat Mai‹, dachte er verbittert.
Wegen der vielen zerstörten Brücken hatte
man einen Pendelverkehr mit Ruderbooten zum anderen Spreeufer eingerichtet.
Karl kaufte dem Zeitungsmann an der Anlegestelle eine Berliner Zeitung ab
und zündete sich eine Zigarette an – ein Luxus, den er sich wegen Bennos
Geschenk nun leisten konnte, denn zumindest für die kommenden Tage war die
Nahrung gesichert. Dann überflog er die Schlagzeilen.
Die Amerikaner und Engländer würden
Anfang Juli ihre Sektoren in Berlin besetzen und später den Franzosen einen
Teil davon zur Verwaltung abgeben. Ferner war die ehemalige Reichsbank in
»Berliner Stadtbank« umbenannt worden. In einem anderen Artikel mahnte der von den
Russen eingesetzte Berliner Oberbürgermeister Werner: »Hitlers Kriegsverbrechen
hat unsere Heimatstadt in die tiefste Katastrophe ihrer Geschichte gestürzt. Es
gibt nur einen Ausweg: Durch friedliche Arbeiten den
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