Alles auf dem Rasen
Das Prinzip Gregor
F rüher gab es Gregor. Auf die Frage, was er an seinem Studium der Betriebswirtschaft gut finde, pflegte er zu antworten: Ich will eine goldene Kreditkarte mit meinem Namen darauf und einen Porsche 911 mit einer blonden Frau auf dem Beifahrersitz.
Das Prinzip Gregor war in der kleinen Universitätsstadt stark verbreitet. Seine Anhänger waren notorisch gut gekleidet und schon vor Markttauglichkeit des ersten Mobiltelephons in der Lage, jedes Kaffeehaus in das Büro einer Unternehmensberatung zu verwandeln, indem sie sich einfach nur hinsetzten. Es war nicht schwierig, Gregor unerträglich zu finden. Ein materialistischer Mensch in einer materialistischen Welt, ohne Begeisterung, ohne Ideen und Werte. Wenigstens machte er kein Hehl aus seinem umfassenden Desinteresse gegenüber Dingen, deren monetärer Gegenwert im Unklaren liegt.
Zum Prinzip Gregor gehörte auch Füsser. Er war die andere Seite, ohne die keine Medaille existieren kann. Füsser wusste nicht, ob er sein Philosophiestudium der Wissenschaft zuliebe in Tübingen beginnen sollte oder wegen des Biers in Köln. Seine Bücher bewahrte er in Haufen auf dem Boden auf, weil er in Regalen nichts wiederfand. Füssers Freunde waren zu dick oder zu dünn und mochten Geld, wenn es in einen Zigarettenautomaten passte. Das geisteswissenschaftliche Studium betrachteten sie als perfekte Vorbereitung auf die Arbeitslosigkeit. Man lernte von Anfang an, mit freier Zeiteinteilung, innerer Leere und sozialer Degradierung zurechtzukommen.
Gregor und Füsser begegneten sich nie, weil der eine aufstand, wenn der andere zu Bett ging; die Natur hatte ihnen unterschiedliche Lebensräume geschaffen. Trotzdem ähnelten sie sich wie die entgegengesetzten Enden einer Fahnenstange. Beide begehrten auf unterschiedliche Weise dieselbe Sache: Gregor die Anwesenheit, Füsser die Abwesenheit von möglichst viel Geld.
Nina und Nele waren mit beiden befreundet. Sie studierten Jura, weil man damit »alles Mögliche« machen kann, und Geld war ihnen egal, solange die Rotweinbestände gut gefüllt und Secondhandläden samstags bis sechzehn Uhr geöffnet waren. Aus purem Interesse lernten Nina und Nele drei Sprachen, belegten Doppel-, Zweit- und Aufbaustudiengänge, absolvierten Praktika in den globalen Machtzentren der Welt und sprachen auf Partys über die Osterweiterung der EU. Meisterhaft täuschten sie sich selbst und ihre Eltern darüber hinweg, dass die Paradeausbildung nicht auf eine Berufswahl hinauslief.
Nina und Nele fanden Gregor und Füsser rührend: Angehörige einer Gattung, die noch nicht weiß, dass sie vom Aussterben bedroht ist. Sie selbst nämlich waren Prophetinnen eines neuen Zeitalters. Sie konnten mit oder ohne viel Geld leben, weil sie sich selbst und ihre Umgebung über andere Dinge definierten. Ihre Lieblingssätze lauteten: Geld macht nicht glücklich. Zweitens: Glück macht nicht satt. Drittens: Denkt an unsere Worte.
Ein paar Dinge hatten sie alle gemeinsam. Sie sollten es im Leben besser haben als ihre Eltern und wurden gleichzeitig wegen Anspruchsdenken und Wohlstandskindertum verunglimpft. Sie waren hochintelligent, überdurchschnittlich begabt, körperlich bei Kräften, kurz: Musterbeispiele künftiger Leistungsträger, Hoffnungsschimmer einer gerade wiedervereinigten Republik. Orientierungslosigkeit hatte man ihnen schon nachgesagt, bevor sie auf die Welt kamen.
Oft markiert ein unscheinbares Ereignis die Sollbruchstelle im System. Die Jahrtausendwende war schon vorbei, und Gregor, Füsser, Nina und Nele hatten sich in alle Winde zerstreut, als der Reissack umfiel. Nicht in China, sondern auf einer der Gartenpartys, von denen die Elterngeneration nicht genug bekommt, seit die Kinder aus dem Haus sind.
Auf einem dieser Feste im Sommer 2002 stellte sich durch Zufall heraus, dass erstens der gesamte mitgebrachte Wein und Sekt von ALDI stammte und zweitens alle Anwesenden inklusive der Gastgeberin dies längst an den Etiketten erkannt hatten. Plötzlich erzählten die Mütter von Gregor, Füsser, Nina und Nele einander, wie sie drei Jahrzehnte lang beim ALDI-Einkauf hinter dem Gebäude geparkt, die Einkäufe in mitgebrachte Edeka-Tüten verpackt und für den Fall, dass ihnen ein Bekannter begegnete, den immer gleichen Satz bereitgehalten hatten: ALDI füllt teure Markenprodukte in billige Verpackungen – da wäre es doch idiotisch, mehr Geld auszugeben.
Die Erleichterung war groß, das ausbrechende Gelächter laut und lang. Es
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