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Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch

Titel: Hurra, wir leben noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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Bahnhof von Linz war zerstört. Der ›Orient-Expreß‹ fuhr weiter draußen ab, unter freiem Himmel. Dieser Himmel war schwarz, aber die Nacht war weiß, weiß von Schnee. Und in dieser weißen Finsternis, in welcher der Sturm nur zwei schwache Lampen schaukeln ließ, standen am Abend des 1. Januar 1947 zwischen Gleisen, Trümmern, Bombentrichtern und in eisiger Kälte Julia, Professor Donner, George, Jesus und Mojshe, um Jakob Formann das Geleit zum Abschied zu geben. Ein amerikanischer Transportoffizier stand gelangweilt neben seinen drei Mann Begleitpersonal. Drei französische Schaffner wieselten geschäftig herum. Der Zug führte zwei Schlafwagen, einen Schlafwagen der Ersten Klasse sowie einen Speisewagen und durfte nur von alliiertem Personal benutzt werden.
    Jakob hatte ein Schlafwagenabteil bekommen. Die alliierten Damen und Herren fanden das unbegreiflich. Ein Österreicher! Ein Zivilist! (Der Provost Marshal hatte sich über die kostbare ›Mein Kampf‹-Ausgabe in Leder und Goldschnitt überhaupt nicht beruhigen können.)
    Der befreite Österreicher stand beim Einstieg seines Wagens. Der Hase neben ihm hielt seine Hand ganz fest. Und Jakobs blauer Mantel war mit Kaninchenhaaren übersät. (Sie hatten auf dem Weg zum Bahnhof – die drei Ami-Freunde waren mit einem Weapons-Carrier gekommen – ununterbrochen voneinander Abschied genommen.) Und nun wünschten alle Jakob Glück und Gesundheit und Erfolg.
    Jesus Washington Meyer sprach: »Da habe ich ein Geschenk für dich, Jake.«
    »Was ist das?« fragte Jakob etwas angeekelt, als er sah, was in Jesusens Hand lag.
    »Eine Hasenpfote ist das«, erklärte Jesus. Sie war klein und vertrocknet und ganz hart. »Die hat mir Pa gegeben«, sagte Jesus. »Als ich zur Army mußte. Diese Pfote hat Pa sein ganzes Leben lang Glück gebracht. Mir auch, Jake! Oder glaubst du, ich hätte sonst diesen fucked-up Krieg so gut überstanden? Mein Pa hat die Pfote von seinem Pa bekommen. Diese Pfote ist schon sehr lange in unserer Familie. Wer immer sie besitzt, Jake, hat Glück, no shitting! Du wirst an meine Worte denken. Nur vertrauen mußt du der Pfote natürlich!«
    »Ja, aber du brauchst sie doch selber, Jesus …«
    »Hell, ich darf doch irgendwann wieder nach Hause. Du mußt in diesem beschissenen Europa bleiben! Du brauchst sie mehr als ich!«
    »Ich danke dir also auch schön, Jesus. Bist ein feiner Kerl!«
    »Ach, halt die Fresse«, sagte Jesus.
    »All aboard!« schrien die amerikanischen Begleitmannschaften.
    »En voitures!« schrien die drei französischen Schaffner.
    »Ja also …«, sagte Jakob.
    Der Hase schluchzte gramvoll auf, dann küßte er den Bären viele, viele Male. (Dabei wechselten noch viele, viele Kaninchenhaare den Besitzer.) Und stammelte: »Komm wieder … komm wieder …«
    »Natürlich, Hase«, sagte Jakob, der sich bereits in Waldtrudering und Murnau und Flensburg sah, und, visionär, auch in Jerusalem und Madagaskar und Nord- und Südamerika.
    »Jetzt steig ein«, würgte der Hase hervor. »Schnell!«
    Jakob strich Julia noch einmal über das Kopftuch, dann kletterte er in den Wagen und ließ das Türfenster herab, um zu winken. Schnee peitschte in sein Gesicht. Türen flogen zu. Die Pfeife der Lokomotive heulte. Der Hase winkte und schrie, aber der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen, als der ›Orient-Expreß‹ nun anruckte und langsam in die Nacht hinausglitt. Jakob winkte.
    Der Zug ging in eine Kurve. Jakob sah Julia nicht mehr. Er schloß das Fenster und ging den Gang des Waggons hinauf. Bett 31. Die Tür zum Abteil stand offen. Der Herr von Nummer 32, dem Unterbett, saß auf demselben und fraß Schokolade, einen großen Riegel. Er hatte den Mund so voll, daß er nur ein ungläubiges Würgen herausbrachte. Auch Jakob mußte sich am Türrahmen festhalten, so verblüfft war er, diesen Herrn zu sehen.
    »Franzl«, sagte er atemlos. »Wie kommst denn du hierher? Dich haben sie doch in Wien eingesperrt!«
    Aber Franzl sprang, starren Blicks, in die Höhe, schoß zur Tür hinaus und den Gang entlang.
    Jakob blickte ihm kopfschüttelnd nach. Dann setzte er sich auf das untere Bett. Immer noch schüttelte er fassungslos den Kopf. Doch jetzt kam Müdigkeit über ihn. Er ließ sich zurückfallen und schloß die Augen.

22
    »Noch einen Whiskey, Jakob?«
    »Du weißt doch, ich trinke keinen Alkohol.«
    »Nur damit du nicht krank wirst!«
    »Dann gerne, Franzl.«
    »Wieder nur on the rocks!«
    »Wieder nur on the rocks!«
    »Na, also dann

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